Beratungspflicht des Trägers der Sozialhilfe hinsichtlich Erkennbarkeit eines dringenden rentenversicherungsrechtlichen Beratungsbedarfs
bei Beantragung von laufenden Leistungen der Grundsicherung wegen Erwerbsminderung
Tatbestand
Der Kläger, der schwerbehindert ist, nimmt den beklagten Landkreis als Sozialhilfeträger unter dem Gesichtspunkt der Amtshaftung
(§
839 Abs.
1 Satz 1
BGB i.V.m. Art.
34 Satz 1
GG) wegen fehlerhafter Beratung auf Schadensersatz in Anspruch.
Der am 21. April 1984 geborene Kläger, dessen Behinderungsgrad von 100 % seit dem 3. September 1992 anerkannt ist, besuchte
vom 1. August 1991 bis zum 31. Juli 2002 eine Förderschule für geistig Behinderte. Anschließend nahm er vom 2. September 2002
bis zum 27. September 2004 in der DRK-Werkstatt für behinderte Menschen in M. an berufsbildenden Maßnahmen im Sinne des §
102 Abs.
2 SGB III in der damals geltenden Fassung teil (Tätigkeitsgebiet: Einfachmontage). Da es ihm in der Folgezeit nicht möglich war, ein
seinen Lebensbedarf deckendes Erwerbseinkommen zu erzielen, beantragte seine zur Betreuerin bestellte Mutter unter dem 7.
Dezember 2004 bei dem Landratsamt M. laufende Leistungen der Grundsicherung nach dem Gesetz über eine bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (GSiG, gültig bis zum 31. Dezember 2004) beziehungsweise nach §§ 41 ff SGB XII (gültig ab dem 1. Januar 2005). In dem von ihr ausgefüllten Antragsformular beantwortete sie die Frage "Besteht ein Rentenanspruch,
ggf. wann und wo wurde Antrag gestellt?" durch Ankreuzen der Alternative "nein". Der Beklagte gewährte dem Kläger die beantragten
Leistungen für die Zeit vom 1. November 2004 bis zum 31. Juli 2011.
Nachdem die Mutter des Klägers im Jahr 2011 von einer (neuen) Sachbearbeiterin des Landratsamts des Beklagten erstmals darüber
informiert worden war, dass der Kläger einen Anspruch auf Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung wegen voller
Erwerbsminderung habe, bewilligte die Deutsche Rentenversicherung Bund auf entsprechenden Antrag des Klägers vom 31. August
2011 mit Bescheid vom 28. November 2011 eine monatliche Erwerbsunfähigkeitsrente von zunächst 802,36 € mit Wirkung ab 1. August
2011. In dem Rentenbescheid wurde unter anderem festgestellt, dass die Anspruchsvoraussetzungen bereits seit dem 10. November
2004 erfüllt seien. Mit Schreiben vom 29. November 2013 führte die Rentenversicherung ergänzend aus, dass seit dem 10. November
2004 eine volle Erwerbsminderung bestehe und die "allgemeine Wartezeit" von grundsätzlich 60 Monaten vorzeitig erfüllt sei,
da die Erwerbsminderung innerhalb von sechs Jahren nach einer Ausbildung eingetreten sei und in den letzten zwei Jahren vor
Eintritt der Erwerbsminderung mindestens ein Jahr Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit vorhanden
seien. Bei Antragstellung bis 28. Februar 2005 hätte sich der frühestmögliche Rentenbeginn zum 1. Dezember 2004 ergeben.
Der Kläger verlangt Schadensersatz in Höhe der Differenz zwischen der vom 10. November 2004 bis 31. Juli 2011 gewährten Grundsicherung
und der ihm in diesem Zeitraum bei rechtzeitiger Antragstellung zustehenden Rente wegen voller Erwerbsminderung. Er hat vorgetragen,
der geltend gemachte Differenzschaden wäre nicht eingetreten, wenn der Beklagte ihn beziehungsweise seine Betreuerin bereits
im Jahr 2004 auf die Möglichkeit des Rentenbezugs hingewiesen hätte. Die Sachbearbeiterin des Landratsamts sei zwar nicht
verpflichtet gewesen, eine Rentenberatung vorzunehmen, sie habe aber ihre Informationsmöglichkeiten - zum Beispiel durch eine
Nachfrage bei der Rentenversicherung - nutzen müssen, um zu klären, ob ein Rentenanspruch bestehe.
Das Landgericht hat der auf Zahlung von 50.322,61 € nebst Zinsen gerichteten Klage stattgegeben. Auf die hiergegen gerichtete
Berufung des Beklagten hat das Oberlandesgericht unter Abänderung des erstinstanzlichen Urteils die Klage abgewiesen. Mit
der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision erstrebt der Kläger die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an die
Vorinstanz.
I.
Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt:
Dem Kläger stehe kein Amtshaftungsanspruch wegen fehlerhafter Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung oder wegen fehlerhafter
Beratung zu. Die Mitarbeiter der Grundsicherungsbehörde beziehungsweise des Sozialamts hätten keine ihnen gegenüber dem Kläger
obliegenden Amtspflichten verletzt. Trotz des Nachrangs der Sozialhilfe (§ 2 Abs. 1 BSHG bis 31. Dezember 2004, § 2 Abs. 1 SGB XII ab 1. Januar 2005) habe die zuständige Sachbearbeiterin dem Antrag des Klägers auf Grundsicherung zu Recht stattgegeben,
da der Kläger in dem Bewilligungszeitraum von 2004 bis 2011 nicht in der Lage gewesen sei, sich durch den Einsatz seiner Arbeitskraft,
seines Einkommens und seines Vermögens selbst zu helfen, und auch keine Leistungen von anderen Sozialleistungsträgern - insbesondere
keine Erwerbsunfähigkeitsrente - erhalten habe. Der Grundsatz des Nachrangs der Sozialhilfe diene nicht dem Schutz des Anspruchstellers,
sondern solle die Haushalte der Sozialhilfeträger vor einer Inanspruchnahme schützen.
Eine Amtspflichtverletzung liege auch nicht unter dem Gesichtspunkt einer fehlerhaften Beratung vor. Da unstreitig kein Hinweis
auf die Möglichkeit einer Erwerbsminderungsrente erfolgt sei, komme allenfalls eine unvollständige Auskunft in Betracht. Es
erscheine aber bereits fraglich, ob es ein Beratungsbegehren des Klägers gegeben habe. Die Mitarbeiter des Sozialamts seien
gemäß §
14 Satz 2
SGB I nur für eine Beratung in Bezug auf Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch XII zuständig. Nur in diesem Rahmen seien sie, auch ohne konkrete Nachsuche, verpflichtet, bei Vorliegen eines Anlasses auf klar
zutage tretende Gestaltungsmöglichkeiten hinzuweisen. Außerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs könne sich eine Beratungspflicht
allenfalls dann ergeben, wenn sie "sehenden Auges" offensichtliche Dinge übersehen hätten, die auch einem Sachbearbeiter im
Sozialamt ohne weiteres hätten auffallen müssen. Dies sei vorliegend hinsichtlich der Bewilligung einer Erwerbsminderungsrente
nicht der Fall. Zur Beurteilung der relevanten Fragen seien Spezialkenntnisse des Rentenversicherungsrechts erforderlich gewesen.
Selbst dem Senat erschließe sich nicht, inwieweit die Anspruchsvoraussetzungen hier erfüllt seien. Dem Sozialamt habe daher
die Möglichkeit einer Erwerbsunfähigkeitsrente nicht im Geringsten naheliegend erscheinen müssen.
II.
Diese Ausführungen halten der rechtlichen Überprüfung nicht stand, soweit das Berufungsgericht eine Amtspflichtverletzung
des Beklagten im Zusammenhang mit den ihm nach §
14 Satz 1
SGB I obliegenden besonderen sozialrechtlichen Beratungs- und Betreuungspflichten verneint hat. Unter den gegebenen Umständen war
anlässlich der Beantragung von Leistungen der Grundsicherung zumindest ein Hinweis vonseiten des Beklagten notwendig, dass
auch ein Anspruch des Klägers auf Gewährung einer Erwerbsunfähigkeitsrente in Betracht kam und deshalb eine Beratung durch
den zuständigen Rentenversicherungsträger geboten war.
1. Nicht zu beanstanden ist, dass das Berufungsgericht die Bewilligung von laufenden Leistungen nach dem Grundsicherungsgesetz beziehungsweise nach §§ 41 ff SGB XII mit Bescheid des Beklagten vom 25. November 2004 und Folgebescheiden als rechtmäßig angesehen hat, da der voll erwerbsgeminderte
Kläger keine Leistungen anderer Sozialleistungsträger bezogen habe (vgl. § 2 Abs. 1 BSHG, § 2 Abs. 1 SGB XII). Dies zieht auch die Revision nicht in Zweifel.
2. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist jedoch ein Beratungsfehler der Mitarbeiter des Beklagten und damit die
Verletzung einer drittbezogenen Amtspflicht im Sinne des §
839 Abs.
1 Satz 1
BGB darin zu sehen, dass die Grundsicherungsbehörde beziehungsweise das Sozialamt, obwohl ein dringender Beratungsbedarf in rentenversicherungsrechtlicher
Hinsicht deutlich erkennbar war (möglicher Anspruch auf Erwerbsunfähigkeitsrente), einen entsprechenden Hinweis unter Verstoß
gegen §
14 Satz 1
SGB I unterlassen hat.
a) Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats müssen Auskünfte, die ein Beamter erteilt, dem Stand seiner Erkenntnismöglichkeit
entsprechend, sachgerecht, das heißt vollständig, richtig und unmissverständlich, sein, so dass der Empfänger der Auskunft
entsprechend disponieren kann. Wenn Rechts- und Fachkenntnisse über den Gegenstand der Auskunft beim Empfänger nicht vorausgesetzt
werden können, muss die Auskunft nach Form und Inhalt so klar und eindeutig sein, dass Missverständnisse und Zweifel, wie
sie bei unerfahrenen Personen leicht entstehen können, möglichst ausgeschlossen sind. Diese Amtspflicht besteht gegenüber
jedem Dritten, in dessen Interesse oder auf dessen Antrag die Auskunft erteilt wird (st. Rspr. vgl. nur Senatsurteile vom
2. Februar 1997 - III ZR 241/95, NVwZ 1997, 1243 und vom 26. April 2018 - III ZR 367/16, MDR 2018, 793 Rn. 26; BeckOGK/Dörr,
BGB, §
839 Rn. 183 [Stand: 1. April 2018]; jew. mwN).
b) Es entspricht darüber hinaus ständiger Rechtsprechung des Senats, dass besondere Lagen und Verhältnisse für den Beamten
zusätzliche (Fürsorge-)Pflichten begründen können, zum Beispiel die Pflicht, einen Gesuchsteller über die zur Erreichung seiner
Ziele notwendigen Maßnahmen belehrend aufzuklären oder in anderer Weise helfend tätig zu werden, wenn der Beamte erkennt oder
erkennen muss, dass der Betroffene seine Lage in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht nicht richtig zu beurteilen vermag.
Insbesondere darf der Beamte nicht "sehenden Auges" zulassen, dass der einen Antrag stellende oder vorsprechende Bürger Schäden
erleidet, die der Beamte durch einen kurzen Hinweis, eine Belehrung mit wenigen Worten oder eine entsprechende Aufklärung
über die Sach- und Rechtslage zu vermeiden in der Lage ist (z.B. Senatsurteile vom 7. Dezember 1995 - III ZR 141/94, NVwZ 1996, 512, 514; vom 9. Oktober 2003 - III ZR 414/02, NVwZ 2004, 638, 639; vom 3. März 2005 - III ZR 186/04, NVwZ-RR 2006, 634 und vom 20. April 2017 - III ZR 470/16, NVwZ-RR 2017, 608 Rn. 42). Diese zusätzlichen Aufklärungs- und Belehrungspflichten ergeben sich aus dem Grundsatz, dass der Beamte nicht nur
Vollstrecker staatlichen Willens, nicht nur Diener des Staates, sondern zugleich "Helfer des Bürgers" sein soll, und betreffen
Fallkonstellationen, in denen sich die notwendige Hilfe oder eine andere gebotene Verhaltensweise situationsbedingt aufdrängen
(Senatsurteil vom 9. Oktober 2003 aaO; BeckOGK/Dörr aaO Rn. 181, 195; jew. mwN).
c) Besondere Beratungs- und Betreuungspflichten bestehen im Sozialrecht für die Sozialleistungsträger (vgl. §
2 Abs.
2 Halbsatz 2, §§
14,
15 und
17 Abs.
1 SGB I). Denn eine umfassende Beratung des Versicherten ist die Grundlage für das Funktionieren des immer komplizierter werdenden
sozialen Leistungssystems. Im Vordergrund steht dabei nicht mehr nur die Beantwortung von Fragen oder Bitten um Beratung,
sondern die verständnisvolle Förderung des Versicherten, das heißt die aufmerksame Prüfung durch den Sachbearbeiter, ob Anlass
besteht, den Versicherten auch von Amts wegen auf Gestaltungsmöglichkeiten oder Nachteile hinzuweisen, die sich mit seinem
Anliegen verbinden; denn schon gezielte Fragen setzen Sachkunde voraus, über die der Versicherte oft nicht verfügt (Senatsurteil
vom 6. Februar 1997 - III ZR 241/95, NVwZ 1997, 1243; BSGE 61, 175, 176). Die Kompliziertheit des Sozialrechts liegt gerade in der Verzahnung seiner Sicherungsformen bei den verschiedenen
versicherten Risiken (z.B. den Risiken der Renten- und Krankenversicherung), aber auch in der Verknüpfung mit anderen Sicherungssystemen
(hier: Grundsicherung bei Erwerbsminderung nach §§ 41 ff SGB XII und Rente wegen Erwerbsminderung nach §
43 SGB VI). Diese Sicherungssysteme können sowohl nebeneinander als auch nacheinander für den einzelnen wirksam werden. So kann nach
den Normen, die ihr Verhältnis zueinander regeln, die Anrechnung bestimmter Zeiten in dem einen System die Anrechnung in dem
anderen ausschließen oder die Gewährung von Leistungen aus dem einen System der Gewährung entsprechender aus dem anderen entgegenstehen
oder sie begrenzen (vgl. § 2 Abs. 1 SGB XII). Die Beratungspflicht ist deshalb nicht auf die Normen beschränkt, die der betreffende Sozialleistungsträger, hier die Grundsicherungsbehörde
beziehungsweise das Sozialamt, anzuwenden hat (BSGE aaO S. 176 f). Der Leistungsträger kann sich nicht auf die Beantwortung
konkreter Fragen oder abgegrenzter Bitten beschränken, sondern muss sich bemühen, das konkrete Anliegen des Ratsuchenden zu
ermitteln und - unter dem Gesichtspunkt einer verständnisvollen Förderung - zu prüfen, ob über die konkrete Fragestellung
hinaus Anlass besteht, auf Gestaltungsmöglichkeiten, Vor- oder Nachteile hinzuweisen, die sich mit dem Anliegen verbinden
(Senatsurteil vom 6. Februar 1997 aaO S. 1244; BSGE aaO; BeckOGK/Dörr aaO Rn. 185).
d) Vor diesem Hintergrund geht das Bundessozialgericht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass §
14 Satz 1
SGB I, wonach jeder Anspruch auf Beratung über seine Rechte und Pflichten nach dem Sozialgesetzbuch hat, nicht nur diejenigen Leistungsträger,
denen gegenüber Rechte geltend zu machen oder Pflichten zu erfüllen sind, zur Beratung verpflichtet (s. §
14 Satz 2
SGB I; hier: Träger der Rentenversicherung), sondern Beratungspflichten auch eine "andere Behörde" (hier: Grundsicherungsamt bzw.
Sozialamt) treffen können. Letzteres kommt insbesondere dann in Betracht, wenn die Zuständigkeitsbereiche beider Stellen materiell-rechtlich
eng miteinander verknüpft sind, die "andere Behörde" im maßgeblichen Zeitpunkt auf Grund eines bestehenden Kontakts der "aktuelle
Ansprechpartner" des Berechtigten ist und auf Grund der ihr bekannten Umstände erkennen kann, dass bei dem Berechtigten im
Hinblick auf das andere sozialrechtliche Gebiet ein dringender Beratungsbedarf in einer gewichtigen Frage besteht (z.B. BSG NZS 1997, 283, 285; BSGE 104, 245 Rn. 44; BeckRS 2016, 69592 Rn. 30; jew. mwN). Dabei kann auch dem Umstand Bedeutung zukommen, dass die in Frage stehenden
Leistungen verfahrensrechtlich verknüpft sind (vgl. BSG, Urteil vom 24. Juli 1985 - 10 Rkg 5/84, juris Rn. 17; NZS 1997 aaO S. 286). Ist anlässlich eines Kontakts des Bürgers mit einem anderen Sozialleistungsträger für diesen ein zwingender rentenversicherungsrechtlicher
Beratungsbedarf ersichtlich, so besteht für den aktuell angegangenen Leistungsträger auch ohne ein entsprechendes Beratungsbegehren,
durch das in der Regel die Beratungspflicht erst ausgelöst wird, zumindest die Pflicht, dem Bürger nahezulegen, sich (auch)
von dem Rentenversicherungsträger beraten zu lassen (vgl. §
2 Abs.
2 Halbsatz 2, §
17 Abs.
1 SGB I). Eine solche Spontanberatungspflicht eines Leistungsträgers, der kein Rentenversicherungsträger ist, in einer rentenversicherungsrechtlichen
Angelegenheit kommt aber nur dann in Betracht, wenn die in dem konkreten Verwaltungskontakt zutage tretenden Umstände insoweit
eindeutig sind, als sie ohne weitere Ermittlungen einen dringenden rentenversicherungsrechtlichen Beratungsbedarf erkennen
lassen (BSG NZS 2011, 342 Rn. 35).
e) Ergänzend zur allgemeinen Vorschrift des §
14 SGB I regelt § 11 SGB XII spezielle Beratungspflichten der Träger der Sozialhilfe. Nach § 11 Abs. 2 Satz 3 SGB XII sind die Leistungsberechtigten unter anderem auch für den Erhalt von (anderen) Sozialleistungen zu "befähigen" (siehe dazu
BeckOK-Sozialrecht/Groth, SGB XII, § 11 Rn. 5 [Stand: 1. Juni 2017]; Streichsbier in Grube/ Wahrendorf, SGB XII, 5. Aufl., § 11 Rn. 3; Luthe in Hauck/Noftz, SGB, Stand: 04/17, § 11 SGB XII Rn. 22; Müller-Grune in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Aufl., § 11 Rn. 21). Eine entsprechende Beratungspflicht ist auch bereits auf der Grundlage des bis zum 31. Dezember 2014 geltenden Rechts
aus § 8 Abs. 2 BSHG hergeleitet worden (Fichtner in Fichtner/Wenzel, BSHG, 2. Aufl., § 8 Rn. 19).
f) Nach diesen Grundsätzen ist die Auffassung des Berufungsgerichts, die Grundsicherungsbehörde beziehungsweise das Sozialamt
des Beklagten hätten keine Amtspflichtverletzung begangen, weil rentenversicherungsrechtliche Spezialkenntnisse von ihnen
nicht verlangt werden könnten und die Voraussetzungen einer Erwerbsunfähigkeitsrente nicht auf der Hand gelegen hätten, von
Rechtsfehlern beeinflusst. Wie die Revision zu Recht geltend macht, hätte es ausgereicht, wenn dem Kläger der - sich aufdrängende
- Hinweis erteilt worden wäre, mögliche Rentenansprüche wegen Erwerbsminderung durch den zuständigen Träger der Rentenversicherung
überprüfen zu lassen.
aa) Die Zuständigkeitsbereiche der Träger der Grundsicherung/Sozialhilfe und der Rentenversicherungsträger sind eng materiell-rechtlich
verknüpft. Sowohl die Grundsicherung bei Erwerbsunfähigkeit nach § 1 Nr. 2 GSiG, § 41 SGB XII als auch die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nach §
43 Abs.
2 SGB VI setzen voraus, dass der Leistungsberechtigte dauerhaft voll erwerbsgemindert im Sinne des Rentenversicherungsrechts ist.
Beiden Leistungen liegt somit derselbe Kernsachverhalt zugrunde. Bereits dieser Umstand stellt entgegen der Auffassung des
Beklagten einen konkreten Anhaltspunkt für unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten aufseiten des Klägers dar. Darüber hinaus
scheidet die Bewilligung von Sozialhilfe gemäß § 2 Abs. 1 BSHG beziehungsweise § 2 Abs. 2 SGB XII aus, wenn der Antragsteller die erforderliche Leistung von anderen Sozialleistungsträgern erhält (sog. Nachrang der Sozialhilfe).
Die Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung sind dabei vorrangig (Luthe in Hauck/ Noftz, SGB XII, Stand: 08/16, § 2 Rn. 67; Fichtner aaO § 2 BSHG Rn. 26). Die Bewilligung einer Erwerbsunfähigkeitsrente hätte sich somit (auch) im Zuständigkeitsbereich des Beklagten ausgewirkt.
bb) Zwischen den Trägern der Grundsicherung/Sozialhilfe und den Trägern der Rentenversicherung besteht auch ein verfahrensrechtlicher
Zusammenhang. Nach der im Zeitpunkt der Antragstellung des Klägers geltenden Regelung des § 7 Nr. 2 und 3 GSiG waren die Träger der Rentenversicherung und die Träger der Grundsicherung verpflichtet, "zur Umsetzung dieses Gesetzes",
also der Vorschriften über die Grundsicherung, zusammenzuarbeiten und Antragsberechtigte bei der Antragstellung zu unterstützen.
Zu diesem Zweck hatte der Rentenversicherungsträger auf Ersuchen des Trägers der Sozialhilfe zu prüfen, ob die Voraussetzungen
der Grundsicherung wegen voller Erwerbsminderung gemäß § 1 Nr. 2 GSiG vorlagen (§ 5 Abs. 2 GSiG, siehe auch §
109a Abs.
1 Satz 5, Abs.
2 SGB VI in der bis zum 31. Dezember 2004 geltenden Fassung). Das am 1. Januar 2005 in Kraft getretene Sozialgesetzbuch XII hat zu keiner Änderung der Rechtslage geführt (vgl. § 4 Abs. 1 SGB XII, §
109a Abs.
1 Satz 5, Abs.
2 SGB VI in der ab 1. Januar 2005 geltenden Fassung).
cc) Auf der Grundlage der von den Vorinstanzen getroffenen Feststellungen bestand im vorliegenden Fall ein dringender Beratungsbedarf
in einer wichtigen rentenversicherungsrechtlichen Frage. Dies war für die Grundsicherungsbehörde beziehungsweise das Sozialamt
des Beklagten ohne weitere Ermittlungen deutlich erkennbar. Der Kläger, der zu 100 % schwerbehindert ist, hatte nach dem Besuch
einer Förderschule für geistig Behinderte in dem Zeitraum vom 2. September 2002 bis zum 27. September 2004 an berufsbildenden
Maßnahmen im Sinne von §
102 Abs.
2 SGB III (in der damals geltenden Fassung) teilgenommen und war anschließend in einer Werkstatt für behinderte Menschen tätig (versicherungspflichtige
Beschäftigung gemäß §
1 Nr. 2 Buchst. a
SGB VI). Er war jedoch auf Grund seiner Behinderung außerstande, seinen notwendigen Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln (Einkommen,
Vermögen) zu bestreiten. In einer solchen Situation musste ein mit Fragen der Grundsicherung bei Erwerbsminderung befasster
Sachbearbeiter mit Blick auf die Verzahnung und Verknüpfung der Sozialleistungssysteme in Erwägung ziehen, dass bereits vor
Erreichen der Regelaltersgrenze ein gesetzlicher Rentenanspruch wegen Erwerbsunfähigkeit bestehen konnte (vgl. §
43 Abs.
2 und §
53 Abs.
2 SGB VI zur vorzeitigen Erfüllung der allgemeinen Wartezeit). Es war deshalb ein Hinweis auf die Notwendigkeit einer Beratung durch
den zuständigen Rentenversicherungsträger geboten. Daran vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass die Mutter des Klägers
beim Ausfüllen des Erstantrags auf laufende Leistungen der Grundsicherung das Bestehen eines Rentenanspruchs und eine diesbezügliche
Antragstellung verneint hat. Es lag auf der Hand, dass sie, die sich als ehrenamtliche Betreuerin ihres Sohnes hilfesuchend
an die Grundsicherungsbehörde gewandt hatte, über die einschlägigen rentenversicherungsrechtlichen Regelungen und ihre Auswirkungen
nicht informiert war. Dabei kann an dieser Stelle dahinstehen, ob die Mutter des Klägers, was dieser vorgetragen und unter
Beweis gestellt hat, das Sozialamt vor der Antragstellung aufgesucht hat, um "allgemein Rat und Auskunft über die Möglichkeiten
eines Erwerbsunfähigen zu erhalten". Denn im Rahmen des Antrags auf Grundsicherung bestand ein konkreter Anlass, den Kläger
auf klar zutage liegende rentenversicherungsrechtliche Gestaltungsmöglichkeiten (eventuelle Erwerbsunfähigkeitsrente) hinzuweisen,
die sich zur Vermeidung empfindlicher finanzieller Einbußen offensichtlich als zweckmäßig aufdrängten und die jeder verständige
Gesuchsteller mutmaßlich nutzen würde (vgl. BSGE 81, 251, 254). Dazu bedurfte es lediglich eines kurzen Hinweises oder einer Belehrung mit wenigen Worten im Sinne der unter 2 b)
zitierten Senatsrechtsprechung. Spezialkenntnisse des Rentenversicherungsrechts waren nicht erforderlich. In Fällen dieser
Art muss der Träger der Grundsicherung/Sozialhilfe nicht prüfen, ob die Voraussetzungen für die Gewährung einer Erwerbsunfähigkeitsrente
gegeben sind. Ebenso wenig muss er über Einzelheiten der Antragstellung belehren (vgl. BSG, Urteil vom 24. Juli 1985 - 10 RKg 5/84, juris Rn. 18).
g) Die Beratungs- und Hinweispflicht des Beklagten lässt sich nicht, wie das Berufungsgericht meint, mit einem Umkehrschluss
aus § 5 Abs. 1 Satz 1 GSiG beziehungsweise §
109a Abs.
1 Satz 1,
2 SGB VI und § 46 Satz 1, 2 SGB XII verneinen. Nach diesen Vorschriften hat der zuständige Rentenversicherungsträger über die Leistungsvoraussetzungen der Grundsicherung
zu informieren und zu beraten. Die Regelung hat ihren Grund in dem für Laien schwer durchschaubaren Sozialleistungssystem
und insbesondere in dem Umstand, dass Grundsicherungsleistungen einen Antrag des Berechtigten erfordern, wohingegen im allgemeinen
Sozialhilferecht die Kenntnis des Leistungsträgers von der Notlage bereits die Leistungsverpflichtung auslöst (vgl. § 18 Abs. 1 SGB XII). Damit soll sichergestellt werden, dass alle potentiell Leistungsberechtigten Kenntnis von ihrer Berechtigung erlangen und
in die Lage versetzt werden, die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung in Anspruch zu nehmen, um Altersarmut sowie
Armut bei dauerhaft voll erwerbsgeminderten Personen zu vermeiden (Begründung zum Entwurf eines Altersvermögensgesetzes, BT-Drucks.
14/4595, S. 43; Kreikebohm in Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 5. Aufl., § 46 SGB XII Rn. 1; Winkler in Schlegel/Voelzke, juris PK-
SGB VI, 2. Aufl., §
109a Rn. 25). Hieraus folgt aber nicht, dass keine Informationspflicht des Trägers der Grundsicherung über andere Sozialleistungen
besteht. Diese ergibt sich - wie dargelegt - aus § 14 Satz 1 i.V.m. §
2 Abs.
2 Halbsatz 2, §
17 Abs.
1 SGB I.
3. Die Entscheidung des Berufungsgerichts erweist sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig (§
561 ZPO). Ein Verschulden der Mitarbeiter des Beklagten ist nicht deshalb ausgeschlossen, weil ihnen das Berufungsgericht als Kollegialgericht
rechtmäßiges Verhalten bescheinigt hat.
Auf die allgemeine Richtlinie, dass einen Amtsträger in der Regel kein Verschulden trifft, wenn ein mit mehreren Rechtskundigen
besetztes Kollegialgericht die Amtstätigkeit als objektiv rechtmäßig angesehen hat (siehe dazu z.B. Senatsurteile vom 6. Februar
1986 - III ZR 109/84, BGHZ 97, 97, 107; vom 6. Februar 1997 - III ZR 241/95, NVwZ 1997, 1243, 1245 und vom 7. September 2017 - III 618/16, juris Rn. 25; jew. mwN), kann sich der Beklagte hier nicht berufen. Die so genannte "Kollegialgerichtsrichtlinie" greift
nicht ein, wenn das Gericht eine gesetzliche Bestimmung "handgreiflich falsch" ausgelegt hat, ferner, wenn und soweit das
Gericht für die Beurteilung des Falles wesentliche Gesichtspunkte unberücksichtigt gelassen hat oder sich bereits in seinem
rechtlichen Ausgangspunkt von einer rechtlich verfehlten Betrachtungsweise nicht hat freimachen können (Senatsurteil vom 6.
Februar 1997 aaO). Jedenfalls Letzteres liegt hier vor. Denn das Berufungsgericht hat bei der Prüfung der im Sozialrecht bestehenden
besonderen Beratungs- und Belehrungspflichten eine im Ausgangspunkt verengte Sichtweise zugrunde gelegt. Es hat nicht hinreichend
beachtet, dass einem Sozialhilfeträger gerade im Hinblick auf die Verzahnung und Verknüpfung der Sicherungsformen und -systeme
frühzeitig Hinweispflichten (ohne weitere Prüfungspflichten) obliegen, wenn wegen Erwerbsunfähigkeit des Leistungsberechtigen
ein rentenversicherungsrechtlicher Beratungsbedarf auf der Hand liegt. Indem das Gericht unter Hinweis auf die beim Sozialhilfeträger
regelmäßig fehlenden Spezialkenntnisse des Rentenversicherungsrechts eine Beratungs- und Hinweispflicht verneint hat, hat
es einen zu engen Prüfungsmaßstab angelegt.
4. Das Berufungsgericht hat - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - dahinstehen lassen, ob und gegebenenfalls in
welcher Höhe für den geltend gemachten Zeitraum ein Rentenanspruch begründet war, so dass im Revisionsverfahren zugunsten
des Klägers davon auszugehen ist, dass der Amtshaftungsanspruch daran nicht scheitert.
5. Soweit der Beklagte sich darauf beruft, der Kläger verfüge über eine anderweitige Ersatzmöglichkeit im Sinne von §
839 Abs.
1 Satz 2
BGB in Gestalt eines Schadensersatzanspruchs aus § 1908i Abs.
1, §
1833 Abs.
1 Satz 1
BGB gegen seine Mutter als Betreuerin, haben die Vorinstanzen ebenfalls keine konkreten Feststellungen getroffen. Der Beklagte
hat dazu ausgeführt, die Mutter habe es als Betreuerin unterlassen, sich beim zuständigen Rentenversicherungsträger zu informieren
und habe stattdessen im Antragsformular für die Grundsicherung angegeben, dass kein Rentenanspruch bestehe. Der Sachbearbeiter
des Beklagten habe vor dem Hintergrund der Mitwirkungspflicht des Klägers nach §
60 Abs.
1 SGB I ohne weiteres von der Richtigkeit dieser Angaben ausgehen dürfen.
Dem Senat erscheinen - vorbehaltlich anderweitiger Feststellungen - eine Pflichtverletzung beziehungsweise ein Verschulden
der Mutter des Klägers eher fernliegend. Zwar gilt trotz der Mutter-Sohn-Beziehung kein allgemeines, mit §
1664 BGB vergleichbares Haftungsprivileg zugunsten der Betreuerin (MüKoBGB/Kroll-Ludwigs, 7. Aufl., §
1833 Rn. 4; Staudinger/Veit [2014],
BGB, §
1833 Rn. 13). Nach dem unter Beweis gestellten Vortrag des Klägers, dem der Beklagte, soweit ersichtlich, nicht ausdrücklich entgegengetreten
ist, hat seine Mutter das Sozialamt jedoch vor der Antragstellung gerade deshalb aufgesucht, um "allgemein Rat und Auskunft
über die Möglichkeiten eines Erwerbsunfähigen zu erhalten". Unabhängig davon kann von einer nicht-professionellen (ehrenamtlichen)
Betreuerin regelmäßig nicht erwartet werden, dass sie über weitergehende Rechtskenntnisse verfügt als der fachlich zuständige
Mitarbeiter einer Sozialbehörde und von sich aus die in Betracht kommenden Gestaltungsmöglichkeiten überblickt, zumal der
Sinn und Zweck der Beratungspflicht nach §
14 SGB I gerade darin besteht, sicherzustellen, dass der Gesuchsteller mit seinem Anliegen verständnisvoll gefördert und auf bestehende
(alternative) Gestaltungsmöglichkeiten hingewiesen wird.
6. Zutreffend hat das Berufungsgericht gesehen, dass nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats der sozialrechtliche Herstellungsanspruch
kein Rechtsmittel im Sinne des §
839 Abs.
3 BGB darstellt (Senatsurteil vom 4. Juli 2013 - III ZR 201/12, BGHZ 197, 375 Rn. 17 ff). Darüber hinaus liegen dessen Voraussetzungen nicht vor. Der von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ergänzend
zu den vorhandenen Korrekturmöglichkeiten bei fehlerhaftem Verwaltungshandeln entwickelte sozialrechtliche Herstellungsanspruch
greift ein, wenn ein Leistungsträger durch Verletzung einer ihm aus dem Sozialleistungsverhältnis obliegenden Haupt- oder
Nebenpflicht, insbesondere zur Auskunft und Beratung, nachteilige Folgen für die Rechtsposition des Betroffenen herbeigeführt
hat und diese Rechtsfolgen durch ein rechtmäßiges Verwaltungshandeln wieder beseitigt werden können (st. Rspr., vgl. nur BSG, Urteil vom 26. April 2005, B 5 RJ 6/04 R, juris Rn. 21; BSGE 104, 245 Rn. 41; NZS 2011, 342 Rn. 26 und Urteil vom 16. März 2016 - B 9V 6/15 R, BeckRS 2016, 69592 Rn. 29; jew. mwN). Eine Folgenbeseitigung durch eine
zulässige Amtshandlung scheitert im vorliegenden Fall daran, dass §
99 Abs.
1 Satz 2
SGB VI einer rückwirkenden Rentenbewilligung entgegensteht (vgl. BSGE 81, 251, 254).
III.
Das angefochtene Urteil ist demnach aufzuheben (§
562 Abs.
1 ZPO) und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, weil sie noch nicht zur
Endentscheidung reif ist (§
563 Abs.
1 Satz 1 und Abs.
3 ZPO). Dabei hat der Senat von der Möglichkeit, nach §
563 Abs.
1 Satz 2
ZPO zu verfahren, Gebrauch gemacht.