Anspruch auf Sozialhilfe; Kostenübernahme von Zuzahlungen zu Arzneimitteln und Praxisgebühr für einen HIV-Infizierten
Gründe:
I
Im Streit ist ein Anspruch des Klägers auf höhere Sozialhilfe für die Jahre 2004 (insgesamt 35,52 Euro) und 2005 (insgesamt
41,40 Euro), insbesondere auf Übernahme der von ihm im Rahmen seiner Krankenbehandlung geleisteten Praxisgebühr und Zuzahlungen.
Der 1960 geborene, HIV-infizierte Kläger bezog neben einer Rente wegen Erwerbsminderung Hilfe zum Lebensunterhalt (HLU), wobei
der Beklagte im Jahre 2004 einen Mehrbedarf für kostenaufwendige Ernährung sowie einen Sonderbedarf wegen auf Grund seiner
Erkrankung erhöhter Heizkosten bewilligt hatte. Im März 2004 beantragte er (für 2004) die Erstattung von 35,52 Euro und im
Dezember 2004 (vorab für das Jahr 2005) die Übernahme von 41,40 Euro für von ihm zu leistende Zuzahlungen (Praxisgebühr und
Zuzahlungen für Medikamente). Der Beklagte lehnte die Anträge ab (Bescheide vom 13.4.2004 und 5.1.2005; Widerspruchsbescheide
vom 31. und 23.3.2005), weil die Zuzahlungen durch die Sozialhilferegelsätze abgegolten seien.
Klage und Berufung sind erfolglos geblieben (Urteil des Sozialgerichts [SG] Köln vom 14.7.2006; Urteil des Landessozialgerichts
[LSG] Nordrhein-Westfalen vom 9.6.2008). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, für das Begehren des Klägers
fehle eine Anspruchsgrundlage. Durch das Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Modernisierungsgesetz
- GMG) vom 14.11.2003 (BGBl I 2190) sei die zuvor nach §
61 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch - Gesetzliche Krankenversicherung - (
SGB V) alter Fassung (aF) gegebene Möglichkeit der vollständigen Befreiung von der Zuzahlungspflicht entfallen. Sozialhilfeempfänger
hätten ab 1.1.2004 - wie alle gesetzlich Versicherten - Zuzahlungen von bis zu zwei Prozent ihres Bruttoeinkommens zu erbringen,
chronisch Kranke, zu denen auch der Kläger gehöre, Zuzahlungen von lediglich einem Prozent ihres Bruttoeinkommens. § 38 Abs 2 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) in der bis zum 31.12.2003 geltenden Fassung, nach dem die Krankenhilfe der Sozialhilfeträger im Einzelfall den vollen Bedarf
des Hilfebedürftigen habe befriedigen müssen, sei ersatzlos gestrichen worden. Dies führe im Ergebnis zu einer vollkommenen
Gleichstellung mit Versicherten ohne Sozialhilfebezug. Zugleich habe der Gesetzgeber auch die Verordnung zur Durchführung
des § 22 BSHG (Regelsatzverordnung [RSV]) geändert; sämtliche Zuzahlungen müssten nun aus den allgemeinen Sozialhilferegelsätzen bestritten werden. Daher scheide
auch eine Leistungsbewilligung als Gewährung einmaliger Hilfen zum Lebensunterhalt aus. Die Neuregelung sei nicht verfassungswidrig;
das verfassungsrechtlich zu sichernde Existenzminimum sei weiterhin gewahrt.
Mit seiner Revision rügt der Kläger eine Verletzung von Art
1 Abs
1 Grundgesetz (
GG) und Art
3 Abs
1 GG iVm § 21 Abs 1a Nr 7, § 38 BSHG bzw § 48 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII). Zur Begründung führt er aus, mit der Gesetzesänderung zum 1.1.2004
habe nur die leistungsrechtliche Privilegierung von Sozialhilfeempfängern gegenüber Personen beseitigt werden sollen, die
gesetzlich krankenversichert seien; die Zuzahlungsproblematik werde davon nicht erfasst. Die Rechtslage seit dem 1.1.2004
verstoße gegen den Gleichheitssatz des Art
3 GG, weil er (der Kläger) trotz seiner chronischen Erkrankung (laufend) Zuzahlungen aufbringen müsse, die ein gesunder Mensch
nicht zu erbringen habe.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des LSG und des SG sowie die Bescheide des Beklagten vom 13.4.2004 und 5.1.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 31. bzw 23.3.2005
aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihm zusätzlich für das Jahr 2004 35,52 Euro sowie für das Jahr 2005 41,40 Euro
zu zahlen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
II
Die Revision ist im Sinne der Zurückverweisung zur erneuten Verhandlung und Entscheidung (§
170 Abs
2 Satz 2
Sozialgerichtsgesetz [SGG]) begründet. Es fehlen ausreichende tatsächliche Feststellungen des LSG, um abschließend entscheiden zu können.
Gegenstand des Verfahrens (§
95 SGG) sind zumindest die Bescheide des Beklagten vom 13.4.2004 (betreffend das Jahr 2004) und vom 5.1.2005 (betreffend das Jahr
2005) in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 31.3. bzw 23.3.2005, gegen die sich der Kläger mit der kombinierten Anfechtungs-
und Leistungsklage (§
54 Abs
1, 4
SGG) wehrt. Ob sich die Klage unmittelbar auch gegen sonstige Bescheide des Beklagten über die Bewilligung von HLU richtet, wird
das LSG nach der Zurückverweisung der Sache zu untersuchen haben. Ggf handelt es sich vorliegend in der Sache auch um ein
Überprüfungsverfahren nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) bzw um ein Verfahren nach § 48 SGB X, sodass die richtige Klage eine kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage wäre.
Nach dem so genannten Meistbegünstigungs- bzw Gesamtfallgrundsatz (vgl: BSGE 101, 217 ff RdNr 12 ff = SozR 4-3500 § 133a Nr 1; BSGE 100, 131 ff RdNr 10 = SozR 4-3500 § 90 Nr 3) ist davon auszugehen, dass der Kläger die von ihm beanspruchten Leistungen (35,52 Euro
für 2004 und 41,40 Euro für 2005) unter allen denkbaren rechtlichen Gesichtspunkten geltend macht.
Richtiger Beklagter ist wegen des in Nordrhein-Westfalen bis 31.12.2010 geltenden Behördenprinzips - §
70 Nr 3
SGG - (s dazu zusammenfassend Söhngen in juris Praxiskommentar SGB XII [jurisPK-SGB XII], § 99 RdNr 18 ff mwN) der Oberbürgermeister
der Stadt Köln. Er nimmt die Aufgaben der örtlich und sachlich zuständigen (§§ 3, 98, 97 SGB XII iVm § 1 des nordrhein-westfälischen
Landesausführungsgesetzes zum SGB XII vom 16.12.2004 - Gesetz- und Verordnungsblatt [GVBl] 816 - und der gemäß § 2 dieses
Gesetzes ergangenen Rechtsverordnung vom 16.12.2004 - GVBl 816) kreisfreien Stadt Köln selbstständig, nicht als Prozessstandschafter,
wahr (vgl BSG, Urteil vom 30.9.2010 - B 10 EG 7/09 R - RdNr 20). Insoweit hat sich gegenüber der Rechtslage vor dem 1.1.2005 keine Änderung ergeben (vgl §§ 9, 96, 97 BSHG iVm §§ 1, 2 des Landesausführungsgesetzes zum BSHG vom 15.6.1999 - GVBl 386 - iVm § 2 der dazu ergangenen Verordnung vom 15.6.1999 - GVBl 386).
Ein Anspruch des Klägers lässt sich § 38 Abs 2 Satz 1 BSHG (in der Fassung des GMG) nicht mehr entnehmen. Lediglich in § 38 Abs 2 Satz 1 der bis Ende 2003 gültigen Fassung der Vorschrift (die diese durch das Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation
und Teilhabe behinderter Menschen vom 19.6.2001 - BGBl I 1046 - erhalten hat) war unmittelbar vorgesehen, dass der Sozialhilfeträger
finanzielle Eigenleistungen der Leistungsberechtigten in voller Höhe zu übernehmen hatte. Diese Regelung ist ab 1.1.2004 ersatzlos
entfallen; auch das SGB XII enthält (für die Zeit ab 1.1.2005) keine entsprechende Regelung. Ein Anspruch des Klägers auf
Übernahme der finanziellen Eigenleistungen lässt sich insoweit auch nicht allgemein aus § 37 BSHG (bis 31.12.2004) bzw § 48 SGB XII (ab 1.1.2005) herleiten. Diese Vorschriften räumen dem Leistungsberechtigten einen Anspruch auf Hilfe bei Krankheit
nur entsprechend dem
SGB V, also auch mit den dort vorgesehenen Eigenleistungen, ein (§ 38 Abs 1 Satz 1 BSHG, § 52 Abs 1 Satz 1 SGB XII).
Ein Anspruch des Klägers lässt sich ferner nicht aus § 27 Abs 2 Satz 1 BSHG (bis 31.12.2004) bzw § 73 Satz 1 SGB XII (ab 1.1.2005) herleiten. Hiernach können Leistungen in besonderen/sonstigen Lebenslagen erbracht werden, wenn
sie den Einsatz öffentlicher Mittel rechtfertigen. Diese "Öffnungsklauseln" ermöglichen es, in Fällen, die vom (übrigen) Sozialleistungssystem
nicht erfasst werden, Hilfen zu erbringen und damit einen "Sonderbedarf" zu decken (vgl nur: Böttiger in jurisPK-SGB XII,
§ 73 RdNr 5 ff; Grube in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 3. Aufl 2010, § 73 SGB XII RdNr 4; Berlit in Lehr- und Praxiskommentar
SGB XII, 8. Aufl 2008, § 73 SGB XII RdNr 4; H. Schellhorn in Schellhorn/Schellhorn/Hohm, SGB XII, 18. Aufl 2010, § 73 SGB
XII RdNr 1). Von den Vorschriften betroffen werden nur atypische ("besondere" bzw "sonstige") Lebenslagen, die nicht bereits
durch andere Vorschriften des BSHG erfasst sind (BSGE 97, 242 ff RdNr 22 = SozR 4-4200 § 20 Nr 1; SozR 4-3500 § 21 Nr 1 RdNr 24). Da Sozialhilfeempfänger ab 1.1.2004 sämtliche Zuzahlungen aus den allgemeinen Regelsätzen
zu bestreiten haben (dazu unten), bleibt für eine Anwendung des § 27 Abs 2 BSHG/§ 73 SGB XII kein Raum. Dies gilt auch unter
Beachtung des Urteils des 14. Senats des BSG vom 19.8.2010 (B 14 AS 13/10 R), das eine atypische Bedarfslage für einen HIV-infizierten Alg-II-Empfänger bei erhöhtem Hygienebedarf aus verfassungsrechtlichen
Gründen wegen Fehlens einer Regelung zur Erhöhung der Regelleistung im SGB II angenommen hat. Zum einen geht es, soweit es
die vom Kläger erbrachten Eigenleistungen betrifft, nicht um einen Hygienebedarf; zum anderen wäre für die Anwendung des §
27 Abs 2 Satz 1 BSHG/§ 73 SGB XII für Sozialhilfeempfänger kein Raum. Hier ist ggf der Regelsatz gemäß § 22 Abs 1 Satz 2 BSHG/§
28 Abs 1 Satz 2 SGB XII zu erhöhen, weil der Gesetzgeber die Zuzahlungen zu Leistungen der GKV ausdrücklich der HLU zugeordnet
hat (dazu unten).
Eine solche Erhöhung des Regelsatzes allein wegen der Zuzahlungen ist jedoch ebenso wenig gerechtfertigt wie bis 31.12.2004
die Anwendung des § 21 Abs 1a Nr 7 BSHG - in das SGB XII (ab 1.1.2005) ist eine entsprechende Regelung ohnedies nicht übernommen worden. Praxisgebühren und sonstige
Zuzahlungen sind kein "besonderer Anlass" im Sinne dieser Vorschrift. Vielmehr werden diese seit 1.1.2004 mit dem normalen
Regelsatz im Rahmen der HLU abgegolten.
§ 12 Abs 1 BSHG (bis 31.12.2004) bzw § 27 Abs 1 Satz 1 SGB XII (ab 1.1.2005) bestimmen insoweit, dass der notwendige Lebensunterhalt insbesondere Ernährung, Unterkunft,
Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Heizung und persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens umfasst. Nach § 22 Abs 1 Satz 1 BSHG (bis 31.12.2004), § 28 Abs 1 Satz 1 SGB XII (ab 1.1.2005) wird der gesamte regelmäßige Bedarf des notwendigen Lebensunterhalts außerhalb von Einrichtungen
nach Regelsätzen erbracht. Die Regelsätze werden so bemessen, dass der Bedarf durch sie gedeckt werden kann (§ 22 Abs 3 Satz 1 BSHG bzw § 28 Abs 3 Satz 1 SGB XII). Mit der Streichung des § 38 Abs 2 BSHG aF (Art 28 Nr 4 Buchst c GMG) hat der Gesetzgeber des GMG zugleich bestimmt, dass der in der RSV näher umschriebene Regelsatz nunmehr auch
Leistungen für Kosten bei Krankheit, bei vorbeugender und bei sonstiger Hilfe umfasst, soweit sie nicht nach den §§ 36 bis
38 des Gesetzes übernommen werden (Art 29 GMG). Durch die Deckung der Zuzahlungen aus dem Regelsatz (vgl BT-Drucks 15/1525,
S 167 zu Art 29) sollten Sozialhilfeempfänger bei den Zuzahlungen den Versicherten in der GKV gleichgestellt werden (vgl BT-Drucks
15/1525, S 167 zu Art 28 Nr 4 Buchst c). Zutreffend hat das LSG hierzu im angefochtenen Urteil ausgeführt, dass die nach früherem
Recht (§
61 SGB V aF) bestehende Möglichkeit der vollständigen Befreiung von der Zuzahlungspflicht durch das GMG vom 14.11.2003 (BGBl I 2190)
als Folge der Änderung des Konzepts des
SGB V mit Wirkung zum 1.1.2004 abgeschafft worden ist. Seit dem 1.1.2004 haben Sozialhilfeempfänger wie alle gesetzlich Versicherten
Zuzahlungen von bis zu 2 vH ihres Bruttoeinkommens, chronisch Kranke, zu denen der Kläger zählen dürfte, bis 1 vH ihres Bruttoeinkommens
zu erbringen (Belastungsgrenze, §
62 Abs
1 Satz 2
SGB V). Diese sind mithin weder ein besonderer Anlass iS des § 21 Abs 1a Nr 7 BSHG, noch rechtfertigen sie alleine die Erhöhung des Regelsatzes.
Dieses Konzept ist nicht verfassungswidrig. Wie der 1. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) im Urteil vom 22.4.2008 (BSGE
100, 221 ff = SozR 4-2500 §
62 Nr 6) zur Verfassungsmäßigkeit der durch das GMG geänderten §§
61,
62 SGB V ausgeführt hat, ist Ausgangspunkt der verfassungsrechtlichen Prüfung die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG)
zur grundsätzlichen Verfassungsmäßigkeit von Zuzahlungsregelungen in der GKV. Danach ist es dem Gesetzgeber prinzipiell erlaubt,
den Versicherten über den Beitrag hinaus zur Entlastung der Krankenkassen und zur Stärkung des Kostenbewusstseins in Form
von Zuzahlungen zu bestimmten Leistungen zu beteiligen, jedenfalls, soweit dies dem Einzelnen finanziell zugemutet werden
kann (BVerfGE 115, 25, 46 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5 RdNr 27; BVerfG, Beschluss vom 7.3.1994 - 1 BvR 2158/93 -, NJW 1994, 3007 ff; BVerfGE 70, 1 ff = SozR 2200 § 376d Nr 1).
Die ersatzlose Streichung der vor dem 1.1.2004 nach §
61 SGB V aF gegebenen Möglichkeit der vollständigen Befreiung von der Zuzahlungspflicht verstößt, wie der 1. Senat zu Recht ausgeführt
hat, ebenso wenig gegen das Vertrauensschutzprinzip (Art
2 Abs
1 iVm Art
20 Abs
3 GG) wie die sozialhilferechtliche "Verlagerung" von Zuzahlungen in den Regelsatz. Eine echte Rückwirkung (bzw Rückbewirkung
von Rechtsfolgen) liegt ohnedies nicht vor. Sie ist nur anzunehmen, wenn ein Gesetz nachträglich ändernd in abgewickelte,
der Vergangenheit angehörende Tatbestände eingreift, oder wenn der Beginn seiner zeitlichen Anwendung auf einen Zeitpunkt
festgelegt ist, der vor dem Zeitpunkt liegt, zu dem die Norm durch ihre Verkündung rechtlich existent, das heißt gültig geworden
ist (vgl BVerfG, Beschluss vom 21.7.2010 - 1 BvL 11/06 ua -, Juris RdNr 71 mwN). Die Einbeziehung von Zuzahlungen im Gesundheitsbereich in den Regelsatz erfasste keine in der Vergangenheit
bereits abgewickelten Tatbestände.
Sie beinhaltet auch keine unzulässige unechte Rückwirkung. Eine solche Rückwirkung (bzw tatbestandliche Rückanknüpfung) liegt
vor, wenn eine Norm auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft einwirkt
und damit zugleich die betroffene Rechtsposition nachträglich entwertet (vgl: BVerfGE 69, 272, 309 = SozR 2200 § 165 Nr 81 S 132; BVerfGE 72, 141, 154 = SozR 2200 § 1265 Nr 78 S 260; BVerfGE 101, 239, 263; 123, 186, 257), oder wenn die Rechtsfolgen einer Norm zwar erst nach ihrer Verkündung eintreten, deren Tatbestand aber
Sachverhalte erfasst, die bereits vor der Verkündung "ins Werk gesetzt" worden sind (vgl: BVerfGE 72, 200, 242; 97, 67, 79; 105, 17, 37 f; 109, 133, 181). Die Einbeziehung von Zuzahlungen im Gesundheitsbereich in den Regelsatz
bewirkt keine solche unechte Rückwirkung oder tatbestandliche Rückanknüpfung. Der Anspruch der Sozialhilfebezieher, von Zuzahlungen
befreit zu sein, hatte durch die Rechtsordnung keine Ausgestaltung erfahren, die über die jeweils aktuelle Bedürftigkeit hinaus
eine verfestigte Rechtsposition begründete. Sozialhilfe ist insoweit strukturell anerkanntermaßen keine rentenähnliche Leistung
(vgl nur Grube in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 3. Aufl 2010, Einleitung RdNr 81 ff mwN). Geschützt ist mithin nur das (aktuelle)
Existenzminimum als solches, nicht seine konkrete Ausgestaltung.
Selbst wenn man dies anders sähe, wäre mit der Gesetzesänderung keine unzulässige unechte Rückwirkung verbunden. Vielmehr
ist eine solche grundsätzlich unter Berücksichtigung der Grundrechte des Klägers zulässig (vgl das Senatsurteil vom 16.12.2010
- B 8 SO 9/09 R - mwN). Denn die Verfassung gewährt keinen generellen Schutz vor einer nachteiligen Veränderung der geltenden
Rechtslage (vgl: BVerfGE 38, 61, 83; 105, 17, 40). Eine schützenswerte Rechtsposition liegt daher nicht schon in der voraussichtlichen Einschlägigkeit bestimmter
Vorschriften in der Zukunft (BVerfG, Beschluss vom 7.12.2010 - 1 BvR 2628/07 -, SGb 2011, 90 = Juris RdNr 49). Die Interessen und Rechte des Klägers sind ausreichend gewahrt.
Der Gesetzgeber hat jedenfalls in Fällen eines unabweisbaren, anders nicht abdeckbaren Bedarfs an Leistungen der GKV, die
von Zuzahlungen abhängen, sichergestellt, dass die Leistungsberechtigten den für Zuzahlungen nach §
61 SGB V erforderlichen Betrag darlehensweise erhalten (§
37 SGB XII ab 1.1.2005). Das Darlehen ist unverzinslich und in monatlichen Raten zu tilgen. Das bewirkt, dass bei kostenaufwendigeren
Leistungen der GKV, bei denen bereits zu Beginn eines Jahres die gesamte zumutbare Zuzahlung zu leisten ist, die Zuzahlungslast
durch das Darlehen auf zwölf Monate verteilt werden kann. § 37 SGB XII hat zwar im BSHG keine unmittelbare Vorgängervorschrift; jedoch liegt das an dem anderen Konzept des BSHG mit weitgehenden Einmalleistungen (Becker in jurisPK-SGB XII, § 37 RdNr 7), die ohnedies neben dem pauschalierten Regelsatz im Einzelfall das Existenzminimum über den Regelsatz hinaus sicherten.
Durch die Zuzahlung wird nicht in das verfassungsrechtlich gesicherte Existenzminimum des Klägers eingegriffen. Bei einer
konkreten Belastung des Klägers - auf das Jahr bezogen - mit einem Betrag von 35,52 Euro (= einer monatlichen Belastung entsprechend
2,96 Euro) bzw 41,40 Euro (= monatlich 3,45 Euro) ist nicht ersichtlich, dass dieses Existenzminimum nicht mehr gewährleistet
wäre. So bezieht sich die Kritik des Klägers auch konkret darauf, dass sich "das Sozialhilfeniveau" inzwischen "im unteren
Grenzbereich des Menschenwürdegehalts" bewege und deswegen durch die neu geschaffenen Regelungen eine Verletzung des Art
1 GG vorliege.
In welcher Mindesthöhe das sozialrechtlich zu gewährende Existenzminimum verfassungsrechtlich gesichert ist, hat das BVerfG
aber zu Recht nicht festgelegt, sondern in der Entscheidung vom 9.2.2010 (BVerfGE 125, 175 ff) ausdrücklich eine unzureichende Absicherung durch das einfache Recht verneint; denn es ist nach der Konzeption des Art
1 Abs
1 GG und Art
20 Abs
1 GG Sache des Gesetzgebers, die Höhe des verfassungsrechtlich gesicherten Existenzminimums auszugestalten (zu den unterschiedlichen
in Rechtsprechung und Literatur vertretenen Standpunkten zur Definition des Existenzminimums und zur Festlegung von Untergrenzen
hierfür vgl BSGE 100, 221 ff RdNr 34 ff = SozR 4-2500 § 62 Nr 6). Wie das BVerfG im Urteil vom 9.2.2010 zur Verfassungsgemäßheit der Gewährleistung
des verfassungsrechtlich gebotenen Existenzminimums durch Regelleistungen ab 1.1.2005 zu § 20 Abs 2 SGB II, die hinsichtlich
ihrer Höhe den Regelsätzen nach § 28 SGB XII entsprechen, entschieden hat (BVerfGE, aaO, S 232 f), hat sich der Gesetzgeber
zur Bestimmung der Regelleistungen jedenfalls auf ein Verfahren gestützt, das im Grundsatz geeignet ist, die notwendigen Leistungen
realitätsgerecht zu bemessen. § 28 Abs 3 SGB XII und § 2 RSV bilden die Grundlage für diese Bemessung. Die Bundesregierung
hat das Verfahren der Regelsatzbemessung sogar als Referenzsystem für die Bestimmung der Regelleistung bezeichnet (BR-Drucks
635/06, S 5). Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Umstellung der Bedarfsdeckung von Einzel- und Sonderbedarfen des BSHG auf die Regelsatzgewährung iS des § 28 Abs 1 SGB XII bestehen hiernach nicht.
Bei der Ordnung von Massenerscheinungen darf der Gesetzgeber typisierende und pauschalierende Regelungen treffen (vgl: BVerfGE
87, 234, 255 f = SozR 3-4100 § 137 Nr 3 S 29 f; BVerfGE 100, 59, 90 = SozR 3-8570 § 6 Nr 3 S 28). Dies gilt auch für Leistungen zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums (vgl
BVerfGE, aaO, S 253). Das BVerfG hat damit die konzeptionell bereits 2004 vorgenommene Einbeziehung der Zuzahlungen in die
Regelleistung unbeanstandet gelassen und dabei festgestellt, dass die gesetzlich festgesetzten Regelleistungsbeträge nicht
evident unzureichend sind; es hat den Gesetzgeber daher nicht unmittelbar von Verfassungs wegen für verpflichtet gehalten,
höhere Leistungen festzusetzen (BVerfGE, aaO, S 256). Vielmehr muss er (lediglich) ein Verfahren zur realitäts- und bedarfsgerechten
Ermittlung der zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums notwendigen Leistungen entsprechend den aufgezeigten
verfassungsrechtlichen Vorgaben durchführen und dessen Ergebnis im Gesetz als Leistungsanspruch verankern. Dies hat in einem
verfassungsgemäßen Verfahren bis zum 31.12.2010 zu geschehen. Bis zu diesem Zeitpunkt bleiben die verfassungswidrigen Normen
jedoch weiterhin anwendbar (BVerfGE, aaO, S 256). Dies gilt auch für die niedrigeren Regelleistungen des BSHG, weil diese konzeptionell den gleichen Überlegungen folgen, und lediglich mit Rücksicht darauf geringer waren, dass die ab
1.1.2005 maßgebenden Regelsätze frühere Einmalleistungen einbezogen haben (Gutzler in jurisPK-SGB XII, § 27 RdNr 11, sowie
§ 28 RdNr 34 ff, jeweils mwN).
Auch der vom Kläger behauptete Verstoß gegen Art
3 Abs
1 GG liegt nicht vor. Der allgemeine Gleichheitssatz gebietet dem Gesetzgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches
ungleich zu behandeln (vgl: BVerfGE 120, 1, 29; 122, 210, 230). Er gilt für ungleiche Belastungen wie für ungleiche Begünstigungen (vgl: BVerfGE 116, 164, 180; 122, 210, 230). Aus dem allgemeinen Gleichheitssatz ergeben sich je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen
unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengeren Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse
reichen (vgl: BVerfGE 116, 164, 180; 117, 1, 30; 120, 1, 29; 123, 1, 19). Für die Anforderungen an Rechtfertigungsgründe für gesetzliche Differenzierungen
kommt es wesentlich darauf an, in welchem Maß sich die Ungleichbehandlung von Personen oder Sachverhalten auf die Ausübung
grundrechtlich geschützter Freiheiten nachteilig auswirken kann (vgl: BVerfGE 105, 73, 110 f; 112, 164, 174 = SozR 4-7410 § 32 Nr 1 RdNr 14; BVerfGE 122, 210, 230). Genauere Maßstäbe und Kriterien dafür, unter welchen Voraussetzungen der Gesetzgeber den Gleichheitssatz verletzt,
lassen sich nicht abstrakt und allgemein, sondern nur in Bezug auf die jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereiche
bestimmen (vgl: BVerfGE 112, 268, 279; 122, 210, 230).
Die vom Kläger kritisierten Gesetzesänderungen haben zur Folge, dass den Sozialhilfeempfänger die Zuzahlungspflicht nunmehr
gleichermaßen trifft wie jeden in der gesetzlichen Krankenversicherung Versicherten; damit hat der Gesetzgeber lediglich ein
Privileg der Sozialhilfeempfänger abgebaut. Denn mit der Änderung der Zuzahlungsregelungen zielte er darauf ab, die Belastungsgerechtigkeit
dadurch zu verbessern, dass grundsätzlich alle Beteiligten in die Zuzahlungsregelungen einbezogen werden sollten (BT-Drucks
15/1525, S 71). Der vom Kläger insbesondere angeführten Tatsache, er unterscheide sich von anderen Sozialhilfeempfängern dadurch,
dass er infolge chronischer Erkrankung auf dauernde Medikamenteneinnahme angewiesen sei, ist dadurch Rechnung getragen, dass
bei chronisch Kranken Zuzahlungen auf bis zu 1 vH ihres Bruttoeinkommens begrenzt sind, während nicht chronisch Kranke bis
zu 2 vH ihres Bruttoeinkommens aufwenden müssen.
Anders als im SGB II (vgl § 20 SGB II), zu dem das Urteil des BVerfG vom 9.2.2010 ergangen ist, ist die Höhe der auf Landesebene
festgesetzten Regelsätze für den Anwendungsbereich des BSHG und des SGB XII zwar in Verordnungen (§ 22 Abs 2 BSHG bzw § 28 Abs 2 SGB XII iVm der RSV) geregelt und damit im Hinblick auf die Normhierarchie theoretisch vom Gericht auch korrigierbar, soweit
die Regelsätze nicht ermächtigungskonform sind. Eine solche Korrektur kann gleichwohl nicht vorgenommen werden, weil das BVerfG
im Urteil vom 9.2.2010 (aaO) die auf die Regelsatzbemessung des SGB XII rekurrierende formell gesetzliche Regelung des SGB
II bis Ende 2010 akzeptiert und ausdrücklich für die Bemessung der Regelbedarfe den Erlass eines Gesetzes gefordert hat.
Das BVerfG hat in dieser Entscheidung Parallelen zum BSHG und zum SGB XII gezogen und für den Bereich der Sozialhilfe betont, trotz des in § 3 Abs 1 Satz 1 BSHG (jetzt § 9 SGB XII) niedergelegten Individualisierungsgrundsatzes, wonach sich Art, Form und Maß der Sozialhilfe nach der Besonderheit
des Einzelfalls, vor allem nach der Person des Hilfeempfängers, der Art seines Bedarfs und den örtlichen Verhältnissen zu
richten hatten, seien nach § 22 Abs 1 Satz 1 BSHG laufende Leistungen zum Lebensunterhalt grundsätzlich "nach Regelsätzen" gewährt worden, die von den Landesbehörden nach
bundesgesetzlichen Vorgaben und nach einer RSV des zuständigen Bundesministeriums festzusetzen gewesen seien (BVerfGE, aaO,
S 187). Die Regelsätze seien zunächst nach dem sog Warenkorbmodell, später nach dem Statistikmodell ermittelt worden; letzteres
sei mit Wirkung ab dem 1.8.1996 in § 22 Abs 3 BSHG (in der Fassung des Art 1 des Gesetzes zur Reform des Sozialhilferechts vom 23.7.1996 - BGBl I 1088), dem der heutige § 28 Abs 3 SGB XII im Wesentlichen
entspreche, gesetzlich verankert worden (BVerfGE, aaO, S 188). Damit hat das BVerfG zum Ausdruck gebracht, dass es auch das
Regelsatzsystem des BSHG/SGB XII zur Grundlage seiner Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit gemacht hat (vgl BVerfGE, aaO,
S 192 ff); gleichzeitig hat es die Festsetzung der Regelleistung/des Regelsatzes ausdrücklich dem Gesetzgeber auferlegt (BVerfGE,
aaO, S 255 ff).
Wie sich die Leistung der HLU im Einzelnen unter Berücksichtigung von Einkommen zusammensetzt, vermag der Senat anhand der
Feststellungen des LSG allerdings nicht zu entscheiden. Entsprechende Feststellungen, die ggf auch einen Hygienemehrbedarf
des Klägers aufgrund seiner HIV-Infektion (vgl BSG, Urteil vom 19.8.2010 - B 14 AS 13/10 R) zu berücksichtigen haben, wird das LSG nachzuholen haben. Höhere Leistungen verlangen auch eine Prüfung der Leistungsvoraussetzungen
dem Grunde nach (§ 19 Abs 1 SGB XII) unter Beachtung des § 21 SGB XII.
Das LSG wird ggf auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.