Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts im Rahmen des Anspruchs auf Sozialgeld bei nichterwerbsfähigen Personen; Zeitpunkt
der Erhöhung durch einen behinderungsbedingten Mehrbedarf; Verfassungsmäßigkeit
Tatbestand:
Gegenstand des Rechtsstreits ist die Frage, ob sich die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts im Rahmen des Anspruchs
auf Sozialgeld bei nichterwerbsfähigen Personen, die Inhaber eines Schwerbehindertenausweises mit dem Merkzeichen G sind,
ab dem Gültigkeitsdatum oder dem Ausstellungsdatum des Ausweises um einen Mehrbedarf von 17 v. H. erhöhen.
Der Kläger bezieht zusammen mit seiner Ehefrau und zwei seiner drei Töchter, mit denen er eine Bedarfsgemeinschaft bildet,
seit 1. Januar 2005 durchgehend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch - Zweites Buch (SGB
II).
Am 4. Dezember 2006 stellte der Kläger bei dem Hessischen Amt für Versorgung und Soziales in ZP. einen Antrag auf Feststellung
des Vorliegens einer Behinderung. Dieses erkannte mit Bescheid vom 18. Mai 2007 einen Grad der Behinderung von 60 an und stellte
das Vorliegen der Voraussetzungen für das Merkzeichen G fest. Weiter heißt es dort: "Diese Feststellung trifft zu ab 04.12.2006".
Der Kläger teilte dies ausweislich eines entsprechenden Aktenvermerks der Beklagten am 24. Mai 2007 mit. Der Schwerbehindertenausweis
wurde vom Versorgungsamt in ZP. am 12. Juni 2007 ausgestellt und ist gültig ab 4. Dezember 2006.
Mit Bescheid vom 4. September 2007 bewilligte die Beklagte dem Kläger Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts und anerkannte
dabei einen Mehrbedarf wegen Behinderung in Höhe von 17 v. H. der Regelleistung ab dem 12. Juni 2007, dem Ausstellungsdatum
des Schwerbehindertenausweises.
Hiergegen legte der Kläger am 27. September 2007 Widerspruch ein und forderte eine Berücksichtigung des Mehrbedarfs bereits
ab der Zuerkennung des Merkzeichens G zum 4. Dezember 2006. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom
29. November 2007 zurück mit der Begründung, maßgeblich für den Zeitpunkt der Gewährung eines Mehrbedarfs nach § 28 Abs. 1
Satz 3 Nr. 4 SGB II sei der Zeitpunkt des "Innehabens" und damit der des Besitzes des Schwerbehindertenausweises, nicht hingegen
dessen Gültigkeit.
Hiergegen hat der Kläger am 2. Januar 2008 Klage bei dem Sozialgericht Gießen mit der Begründung erhoben, er habe Anfang Dezember
2006 telefonisch der Beklagten mitgeteilt, dass er einen Antrag auf Anerkennung als Schwerbehinderter gestellt habe, was als
formlose Antragstellung im Sinne von § 37 SGB II zu werten sei. Die Gewährung des Mehrbedarfs habe ab dem Zeitpunkt zu erfolgen,
zu dem die Schwerbehinderung anerkannt worden sei, also dem 4. Dezember 2006. Diesem Begehren ist die Beklagte in erster Instanz
mit der Begründung entgegengetreten, zwingende Voraussetzung der Gewährung eines Mehrbedarfs nach § 28 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 SGB
II sei nach dem Wortlaut der Vorschrift die Inhaberschaft eines Schwerbehindertenausweises, also dessen tatsächliches Innehaben.
Maßgeblich für den Beginn der Gewährung eines Mehrbedarfs sei daher nicht der Zeitpunkt der Antragstellung durch den Leistungsempfänger
oder der Zeitpunkt der Gültigkeit des Ausweises, sondern der Zeitpunkt, zu dem die zuständige Behörde dem Leistungsempfänger
den Ausweis zur Verfügung stelle. Dies sei der 12. Juni 2007 gewesen.
Das Sozialgericht Gießen hat mit Urteil vom 7. Dezember 2009 die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 4. September
2007 verpflichtet, dem Kläger einen Mehrbedarf für nichterwerbsfähige Personen nach § 28 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 SGB II ab dem 4.
Dezember 2006 zu gewähren und hat die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen. Zur Begründung
hat es ausgeführt, der Kläger sei bereits seit dem 4. Dezember 2006 Inhaber eines Schwerbehindertenausweises gewesen und habe
daher seit diesem Zeitpunkt einen Anspruch auf Mehrbedarfsleistungen gehabt. Sowohl der Wortlaut des § 28 Abs. 1 S. 3 Nr.
4 SGB II ("Inhaber eines Ausweises") wie die Formulierung der Gesetzesbegründung ("einen Schwerbehindertenausweis ... besitzen")
ließen keine eindeutigen Schlussfolgerungen hinsichtlich des Zeitpunkts des Beginns des Mehrbedarfsanspruchs zu. Gleiches
gelte hinsichtlich der Mehrbedarfsregelung des § 30 Abs. 1 SGB XII und der Vorgängerregelung des § 23 BSHG. Die hierzu ergangene sozialhilferechtliche Rechtsprechung habe maßgeblich auf das Innehaben des Ausweises im Bewilligungszeitraum
abgestellt, dies auch wegen der Problematik einer nachträglichen Gewährung von Leistungen, wenn erst nach Ablauf eines Bewilligungszeitraums
die Voraussetzungen und das Vorliegen eines Merkzeichens trotz rechtzeitiger Geltendmachung sich abschließend klären ließen.
Diese Rechtsprechung lasse sich nicht auf Leistungen nach dem SGB II übertragen, denn hiernach sei lediglich eine Antragstellung
nach § 37 SGB II erforderlich mit der Folge, dass eine nachträgliche Leistungsgewährung auch für bereits abgelaufene Bewilligungszeiträume
nicht nur möglich, sondern sogar geboten sei. Die Forderung des Innehabens eines Ausweises nach §
69 Abs.
5 SGB IX als Voraussetzung der Gewährung eines Mehrbedarfs habe den Zweck, gegenüber dem Grundsicherungsträger dartun zu können, dass
der Leistungsempfänger die Leistungen für schwerbehinderte Menschen in Anspruch nehmen dürfe. Dieser sei daher von Eigenermittlungen
zum Grad der Behinderung befreit und die Entscheidung sei bei der hierfür sachkundigen Stelle konzentriert. Das diene der
Verwaltungsvereinfachung und vermeide Doppelbegutachtungen durch verschiedene Leistungsträger. Diese Intention des Gesetzgebers
stehe jedoch einer Korrektur der Leistungshöhe für bereits abgelaufene Bewilligungszeiträume nicht entgegen, zumal die nachträgliche
Anpassungshöhe im Rahmen der Grundsicherungsleistungen allein aufgrund der Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen nach
dem Zuflussprinzip bereits im System selbst angelegt sei und keine Besonderheit darstelle. Die Voraussetzung der Inhaberschaft
des Ausweises so eng auszulegen, dass dies den körperlichen unmittelbaren Besitz des Ausweisdokuments erfordere, widerspräche
dem allgemeinen Gleichheitssatz. Es sei kein sachlicher Grund erkennbar, wonach der Beginn der Gewährung eines Mehrbedarfs
davon abhängig gemacht werden dürfe, zu welchem Zeitpunkt die zuständige Stelle in der Lage sei, dem Leistungsempfänger den
Schwerbehindertenausweis körperlich zur Verfügung zu stellen. Die Leistungsempfänger selbst hätten keinen Einfluss auf die
Dauer des Verwaltungsverfahrens zur Anerkennung des Merkzeichens G. Jeder Tag der Verzögerung seitens der Verwaltung bei der
Ausstellung des Ausweises wirke sich nachteilig auf den Leistungsanspruch des Betreffenden aus. Der mehrdeutige Wortlaut des
§ 28 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 SGB II sei daher verfassungskonform dahin auszulegen, dass Beginn des Mehrbedarfsanspruchs das Gültigkeitsdatum
des Schwerbehindertenausweises sei. Eine solche Auslegung vermeide zudem Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Anspruchsbeginns
für den Fall, dass Ausstellungsdatum und tatsächliches Innehaben des Ausweises auseinander fielen. Gegebenenfalls müssten
weitere Ermittlungen zur Übergabe bzw. Übersendung des Ausweises durchgeführt werden. Schließlich sei § 30 SGB XII zum 7.
Dezember 2006 dahin geändert worden, dass nunmehr der Nachweis des Merkzeichens G als Voraussetzung des Mehrbedarfs sowohl
durch einen Feststellungsbescheid nach §
69 Abs.
4 SGB IX als auch durch einen Ausweis nach §
69 Abs.
5 SGB IX nachgewiesen werden könne. Eine entsprechende Klarstellung des §
28 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 SGB II habe der Gesetzgeber bislang noch nicht vorgenommen. Daraus könne indessen keine bewusste Abkehr
des Gesetzgebers von der durch die Kammer vertretenen Auslegung der fraglichen Vorschrift gesehen werden.
Gegen das der Beklagten am 28. Dezember 2009 zugestellte Urteil hat diese am 13. Januar 2010 Berufung eingelegt und zur Begründung
vorgetragen, dass sowohl im Geltungsbereich des Grundsicherungs- wie des Sozialhilferechts das tatsächliche Verfügen über
eine öffentliche Urkunde wie im vorliegenden Fall den Schwerbehindertenausweis notwendig sei, um einen Mehrbedarf geltend
machen zu können. Inhaber eines Ausweises könne nur derjenige sein, der über diesen verfüge, also die öffentliche Urkunde
in Händen halte. Insoweit nimmt die Beklagte Bezug auf das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 28. November 2008 - L 7 SO
3246/08 -. Eine solche eng am Wortlaut des Gesetzes orientierte Auslegung entspreche der Historie der gesetzlichen Regelungen
und der Zielsetzung einer Gleichbehandlung zwischen erwerbsgeminderten Hilfebedürftigen nach dem SGB XII und dem SGB II. Demgegenüber
führe die Entscheidung des Sozialgerichts zu einer Besserstellung der Hilfesuchenden nach dem SGB II dadurch, dass es nachträgliche
Leistungsgewährungen zulasse. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts erfolgten Leistungsgewährungen sowohl nach dem SGB
II wie dem SGB XII nur auf Antragstellung. In dem Moment, in dem der Hilfesuchende über einen Ausweis verfüge, weise er dies
gegenüber dem betreffenden Sozialleistungsträger nach. Der für den aktuellen Bewilligungszeitraum gestellte Leistungsantrag
stelle dann zugleich auch den Antrag hinsichtlich des Mehrbedarfs dar. Ob diesem Antrag zu entsprechen sei, richte sich danach,
ob der Hilfesuchende zu dem Zeitpunkt, zu dem der Grundleistungsantrag für den neuen Bewilligungszeitraum gestellt worden
sei, tatsächlich Inhaber eines Schwerbehindertenausweises mit dem Merkzeichen G gewesen sei.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 7. Dezember 2009 - S 29 AS 6/08 - abzuändern und die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 4. September 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
29. November 2007 abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er nimmt zur Begründung Bezug auf die Gründe der erstinstanzlichen Entscheidung.
Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß §
124 Abs.
2 SGG zugestimmt.
Wegen des Sach- und Streitstands im Einzelnen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsvorgänge der Beklagten,
die Gegenstand der Beratung waren, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die vom Sozialgericht gemäß §
144 Abs.
1 Satz 1, Abs.
2 SGG zugelassene Berufung, über die der Senat ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann, weil die Beteiligten zugestimmt haben
(§
124 Abs.
2 SGG), hat keinen Erfolg.
Das Sozialgericht hat die Beklagte zu Recht unter Aufhebung ihres Bescheides vom 4. September 2007 verpflichtet, dem Kläger
einen Mehrbedarf in Höhe von 17 v.H. der nach § 20 SGB II maßgebenden Regelleistung bereits ab dem 4. Dezember 2006 zu gewähren.
Klarstellend ist darauf hinzuweisen, dass Streitgegenstand ausschließlich die Leistung des Mehrbedarfs in dem Zeitraum zwischen
der Anerkennung der Schwerbehinderung durch das Versorgungsamt am 4. Dezember 2006, der gleichzeitig das Gültigkeitsdatum
des Schwerbehindertenausweises darstellt, und der Ausstellung des Schwerbehindertenausweises am 12. Juni 2007 ist, also dem
Zeitpunkt, ab dem die Beklagte die Regelleistung um den Mehrbedarf erhöht hat.
Der Kläger hat als nichterwerbsfähiger Sozialgeldbezieher einen Anspruch auf Mehrbedarf als Schwerbehinderter mit dem Merkzeichen
G bereits seit dem Zeitpunkt der Anerkennung durch das zuständige Versorgungsamt. Anspruchsgrundlage ist § 28 Abs. 1 Satz
3 Nr. 4 SGB II i.d.F. des Art. 1 des Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20. Juli 2006
(BGBl. I, S. 1706, 1710). Hiernach erhalten nichterwerbsfähige Personen, die voll erwerbsgemindert nach dem Sechsten Buch sind, einen Mehrbedarf
von 17 v.H. der nach § 20 maßgebenden Regelleistung, wenn sie Inhaber eines Ausweises nach § 69 Abs. 5 des Neunten Buches
mit dem Merkzeichen G sind; dies gilt nicht, wenn bereits ein Anspruch auf einen Mehrbedarf wegen Behinderung nach § 21 Abs.
4 oder § 28 Abs. 1 Nr. 2 oder 3 besteht.
Diese Voraussetzungen liegen im streitgegenständlichen Zeitraum vor. Der Kläger war voll erwerbsgemindert und hat als nicht
erwerbsfähiger Angehöriger, der mit erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in Bedarfsgemeinschaft lebt, Sozialgeld erhalten. Die
Ausschlusstatbestände des § 28 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 2. Halbsatz liegen unstreitig im Falle des Klägers nicht vor. Der Kläger
war im streitgegenständlichen Zeitraum auch "Inhaber eines Ausweises" nach §
69 Abs.
5 SGB IX mit dem Merkzeichen G. Alleiniger Streitpunkt der Beteiligten ist der Zeitpunkt des Entstehens des Anspruchs auf Mehrbedarf
wegen der Schwerbehinderung. Während der Kläger und ihm folgend das Sozialgericht die Auffassung vertreten, es komme auf den
Zeitpunkt der Schwerbehinderung mit dem Merkzeichen G durch das Versorgungsamt an, also auf das Gültigkeitsdatum des Schwerbehindertenausweises,
vertritt die Beklagte die Auffassung, für den Anspruchsbeginn sei der Zeitpunkt des Innehabens, mithin des Besitzes des Schwerbehindertenausweises,
maßgeblich. Es komme also auf das Ausfertigungsdatum 12. Juni 2007 an.
Der Senat hält die Rechtsauffassung des Klägers, die auch vom Sozialgericht geteilt wird, für zutreffend.
Der Normtext des § 28 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 SGB II lässt entgegen der Ansicht der Beklagten keine eindeutige Schlussfolgerung
zu Gunsten einer der beiden von den Beteiligten vertretenen Auffassungen zu, wenn es dort heißt " wenn sie Inhaber eines Ausweises
sind." Dem Sozialgericht ist darin zuzustimmen, dass nach allgemeinem Sprachverständnis der Wortlaut sowohl dahingehend verstanden
werden kann, dass der Besitz des Ausweisdokumentes notwendig ist, also dieses auch vorher ausgestellt und ausgehändigt sein
muss, als auch, dass es auf die Gültigkeit des Schwerbehindertenausweises ankommt, weil daraus auf den Beginn der (materiellen)
Inhaberschaft zu schließen ist. Der Gesetzeswortlaut lässt also sowohl eine formelle wie eine materielle Auslegung des Begriffes
"Inhaber eines Ausweises" zu.
Auch die Entstehungsgeschichte vermag zur Klärung der Streitfrage nichts beizutragen. In der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 16/1410
S. 25) heißt es: "Mit der Anfügung der Nr. 4 findet eine im SGB XII bestehende Mehrbedarfsregelung für Behinderte im Hinblick
auf den Gleichbehandlungsgrundsatz (Artikel 3 des Grundgesetzes) Aufnahme in das SGB II. Sozialgeldbezieher, die einen Schwerbehindertenausweis
mit dem Merkzeichen G besitzen, erhalten einen Mehrbedarf in Höhe von 17% der maßgeblichen Regelleistung."
Die systematische Auslegung ergibt auch kein eindeutiges Ergebnis. § 30 Abs. 1 SGB XII, dem § 28 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 nachgebildet
ist, lautet: "Für Personen, die voll erwerbsgemindert nach dem Sechsten Buch sind, und durch einen Bescheid der nach § 69
Abs. 4 des Neunten Buches zuständigen Behörde oder einen Ausweis nach § 69 Abs. 5 des Neunten Buches die Feststellung des
Merkzeichens G nachweisen, wird ein Mehrbedarf von 17 v.H. des maßgebenden Regelsatzes anerkannt." Diese Vorschrift hat die
jetzige Fassung durch Artikel 1 des Gesetzes zur Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 2.
Dezember 2006 (BGBl. I S. 2670) erhalten, in dem zusätzlich die Möglichkeit aufgenommen worden ist, durch einen Bescheid der zuständigen Behörde die Feststellung
des Merkzeichens G nachzuweisen. Diese Erweiterung des Nachweises ist nach der Einfügung des § 28 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 SGB
II erfolgt und in das Recht der Grundsicherung bislang nicht übertragen worden. Immerhin lässt sich hieraus ableiten, dass
diese Parallelvorschrift des SGB XII, die der Sache nach Vorbild für die streitgegenständliche Rechtsnorm war, alternativ
zu dem Nachweis des Merkzeichens G durch einen entsprechenden Schwerbehindertenausweis den Feststellungsbescheid des Versorgungsamtes
ausreichen lässt. Aber auch die Neufassung des § 30 Abs. 1 SGB XII lässt keinen eindeutigen Rückschluss darauf zu, ob es auf
das Bescheiddatum oder auf das Gültigkeitsdatum ankommen soll.
Für den Senat ist bei der Auslegung der Vorschrift entscheidend der Zweck der Mehrbedarfsregelungen für Schwerbehinderte mit
dem Merkzeichen G in § 28 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 SGB II und der Parallel- und Vorbildvorschrift in § 30 Abs. 1 SGB XII. Im Kern
drückt sich in diesen Regelungen die Entscheidung des Gesetzgebers aus, Menschen, die voll erwerbsgemindert sind und bei denen
die zuständige Behörde das Vorliegen der Voraussetzungen für das Merkzeichen G festgestellt hat, im Hinblick auf ihre zum
Zwecke des Behinderungsausgleichs typischerweise notwendigen Mehrausgaben einen Mehrbedarf zuzuerkennen und die Regelleistung
entsprechend zu erhöhen. Diese zum Ausgleich der Behinderung erforderlichen zusätzlichen finanziellen Mittel müssen, sollen
sie ihren Zweck erfüllen können, ab dem Zeitpunkt der entsprechenden Feststellung durch die zuständige Versorgungsverwaltung
bereit gestellt werden. Der erhöhte finanzielle Aufwand zum Ausgleich der Behinderung entsteht also materiell ab dem Zeitpunkt
der Feststellung durch die zuständige Verwaltungsbehörde, ausgedrückt durch das Gültigkeitsdatum des Feststellungsbescheides
bzw. des Schwerbehindertenausweises. Auf diesen Zeitpunkt ist daher abzustellen für den Beginn des Anspruchs auf Mehrbedarf.
Streng davon zu trennen ist die in § 28 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 SGB II und § 30 Abs. 1 SGB XII getroffene Entscheidung des Gesetzgebers,
in formeller Hinsicht dem Hilfebedürftigen den Nachweis der Schwerbehinderung und der Feststellung des Merkzeichens G durch
das zuständige Versorgungsamt gegenüber dem für Grundsicherung oder Sozialhilfe zuständigen Leistungsträger durch den entsprechenden
Ausweis nach §
69 Abs.
5 SGB IX oder - so die später erfolgte Ergänzung in §
30 Abs.
1 SGB XII - durch Vorlage eines Bescheides der nach §
69 Abs.
4 SGB IX zuständigen Behörde zu erleichtern. Beide Regelungen des Gesetzgebers mit ganz unterschiedlichen Zielrichtungen, einerseits
der Anspruch auf Mehrbedarf in materieller Hinsicht und zum anderen die Erleichterung des Nachweises dieser materiellen Berechtigung
aufgrund der Entscheidung der zuständigen Versorgungsverwaltung gegenüber den Grundsicherungs- oder Sozialhilfeträger andererseits,
müssen nach Auffassung des Senats auseinander gehalten werden.
Diese gebotene Unterscheidung der Regelungsinhalte und damit den maßgeblichen Ansatzpunkt bei der teleologischen Auslegung
der Norm verkennen nach Auffassung des Senats die Landessozialgerichte Baden-Württemberg (Urteil vom 20.11.2008 – L 7 SO 3246/08)
und Niedersachsen-Bremen (Urteil vom 25.02.2010 – L 8 SO 219/07). In der Literatur schließen sich dieser Auffassung an Linhart/Adolph,
Sozialgesetzbuch II/Sozialgesetzbuch XII, Stand: Juli 2009, § 30 Rn. 4 a. E. Demgegenüber wird die vom Senat vertretene Auffassung
geteilt von Knickrehm in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Auflage 2008, § 28 Rn. 33; Nebe SGb 2011, 193 (194 ff.) m.w.N. in Anm. 27 f.
Die im Streitfall maßgebliche teleologische Auslegung führt daher zu dem Ergebnis, dass der Anspruch auf Mehrbedarf in dem
Zeitpunkt entsteht, in dem die für diese Feststellung zuständige Versorgungsverwaltung das Vorliegen der Schwerbehinderung
und des Merkzeichens G festgestellt hat. Dies ist der 4. Dezember 2006.
Die von der Beklagten und den beiden Landessozialgerichten vertretene Auslegung ist nach Auffassung des Senats im Übrigen
auch unvereinbar mit Grundprinzipien, die der Gesetzgeber mit dem Recht des Sozialgesetzbuches verfolgt und die bei der Auslegung
deren Normen leitend sind (§
1 Abs.
1, §
2 Abs.
2, §
10 SGB I).
Ferner läuft diese Auslegung dem Schutzzweck des Art.
3 Abs.
3 Satz 2
GG zuwider, die Stellung behinderter Menschen in Recht und Gesellschaft zu stärken (vgl. BT-Drs. 12/8165, S. 29), wenn das Entstehen
eines materiellen, dem Behinderungsausgleich dienenden Rechts - hier auf Mehrbedarf - hinausgeschoben wird, bis die Verwaltung
bereit und in der Lage ist, ein entsprechendes Ausweisdokument zu erstellen, ggfs. bis ein darüber geführter Rechtsstreit
möglicherweise nach Jahren zu Gunsten des behinderten Menschen entschieden ist (so die Fallgestaltung bei dem LSG Niedersachsen-Bremen
im Urteil vom 25.02.2010 a.a.O.).
Dem hier vertretenen Ergebnis steht auch nicht das Prinzip entgegen, dass Grundsicherungs- ebenso wie Sozialhilfeleistungen
bedarfsbezogen sind und der Abwehr einer konkreten, gegenwärtigen Notlage dienen. Dieses unter dem Stichwort "keine Hilfe
für die Vergangenheit" geltende Prinzip steht einer rückwirkenden Leistungsgewährung jedenfalls dann nicht entgegen, wenn
– wie hier - davon auszugehen ist, dass der infolge der Schwerbehinderung entstandene erhöhte Bedarf von den Hilfebedürftigen
für einen kurzen Zeitraum anderweitig gedeckt werden konnte. Aus Gründen der Effektivität der Gewährung des Anspruchs auf
Hilfe und der Effektivität des Rechtsschutzes ist es für die rückwirkende Geltendmachung eines Anspruchs unschädlich, wenn
der Hilfebedürftige den Bedarf unter Einsatz eigener Geldmittel oder durch Dritte selbst gedeckt hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Der Senat hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache gemäß §
160 Abs.
2 Nr.
1 SGG zugelassen. Angesichts der auch in der obergerichtlichen Rechtsprechung vertretenen unterschiedlichen Auffassungen soll dem
Bundessozialgericht Gelegenheit gegeben werden, die streitige Rechtsfrage zu klären.