Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) im Sinne des Neunten Buches Sozialgesetzbuch - Rehabilitation
und Teilhabe behinderter Menschen (
SGB IX) umstritten.
Der am ... 1977 geborene Kläger beantragte bei dem Beklagten erstmals am 27. November 2003 die Feststellung von Behinderungen
und die Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises. Hierzu gab er an, er leide an Multipler Sklerose. Der Beklagte zog unter
anderem einen Rehabilitationsentlassungsbericht der M. vom 5. Dezember 2003 bei, in der sich der Kläger vom 29. Oktober 2003
bis zum 3. Dezember 2003 einer stationären Rehabilitationsmaßnahme unterzogen hatte. Nach Beteiligung seines ärztlichen Dienstes
stellte er mit Bescheid vom 18. März 2004 einen GdB von 50 ab dem 27. November 2003 fest und stützte dies auf ein organisches
Nervenleiden (Erkrankung in Heilungsbewährung). Er stellte weiterhin fest, dass die Voraussetzungen für die Ausstellung eines
Schwerbehindertenausweises erfüllt seien.
Im Rahmen einer Überprüfung des GdB holte der Beklagte einen Befundbericht der Fachärztin für Neurologie/Psychiatrie Dipl.-Med.
G. vom 9. Mai 2005 ein. Mit Schreiben vom 20. September 2005 hörte er den Kläger über eine beabsichtigte Aufhebung seines
Bescheides vom 18. März 2004 und die Feststellung eines GdB von nunmehr 30 an. In den Verhältnissen sei eine wesentliche Änderung
eingetreten, da für die festgestellte Behinderung eine Besserung im Rahmen einer Stabilisierung eingetreten sei. Nach Einlassung
des Klägers holte der Beklagte einen weiteren Befundbericht der Dipl.-Med. G. vom 11. Januar 2006 ein. Mit Bescheid vom 21.
Februar 2006 hob er seinen Bescheid vom 18. März 2004 auf und stellte ab dem 1. März 2006 einen GdB von 30 fest. Den hiergegen
am 16. März 2006 eingelegten Widerspruch des Klägers wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 20. November 2006 zurück.
Am 9. Januar 2007 beantragte der Kläger bei dem Beklagten die Neufeststellung seines GdB. Er leide unter kurzzeitigen Schüben
mit dann erheblichen Einschränkungen. Nach Beiziehung von ärztlichen Unterlagen des Universitätsklinikums M. - Klinik für
Neurologie II - im Januar 2007 und Beteiligung seines ärztlichen Dienstes lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 19. März 2007
eine Änderung des GdB ab. Auf den hiergegen am 17. April 2007 eingelegten Widerspruch stellte der Beklagte eine dauernde Einbuße
der körperlichen Beweglichkeit fest und wies nach Einholung ärztlicher Berichte und Beteiligung seines ärztlichen Dienstes
den weitergehenden Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 27. Mai 2008 zurück.
Der Kläger hat am 26. Juni 2008 Klage vor dem (ehemaligen) Sozialgericht Stendal erhoben (nunmehr Sozialgericht Magdeburg
- SG) und die Feststellung eines GdB von mindestens 60 begehrt. Das SG hat Befundberichte der behandelnden Ärzte eingeholt, der Fachärztin für Innere Medizin Dipl.-Med. M. vom 3. März 2009 und
der Neurologischen Universitätsklinik M. vom 20. April 2009. Auf Veranlassung des SG hat der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. R. das neurologisch-psychiatrische Gutachten vom 25. November 2010 nach
Untersuchung des Klägers am 18. November 2010 erstellt. Er hat eine seit 2003 bestehende Multiple Sklerose mit neurologischer
und psychischer Symptomatik diagnostiziert. Es handele sich eher um eine chronisch-progrediente Form als um eine schubweise
verlaufende Erkrankung. Der GdB sei mit 50 zu bewerten. Die Prüfärztin habe offensichtlich nicht berücksichtigt, dass dem
Kläger Erwerbsminderungsrente habe gewährt werden müssen. Der Beklagte hat unter Beteiligung seines ärztlichen Dienstes eine
sozialmedizinische Stellungnahme vom 17. Januar 2011 abgegeben: Aus dem Gutachten des Dr. R. gingen nur leichte Funktionsstörungen
hervor, da der Kläger PKW fahre, täglich eine Stunde Rad fahre, eine Stunde mit Pausen schwimme und mehr als zwei Stunden
täglich arbeite, wenn Arbeit anfalle. Die Untersuchungsergebnisse zeigten in Teilbereichen diskrete bis leichte Auffälligkeiten.
Die vom Gutachter angegebene Kraftminderung von 4,5 von 5 nach Janda sei kaum messbar, da selbst bei einem Kraftgrad von 4
nur latente Kraftminderungen bestünden. Auch aus der Magnetresonanztomografie vom 29. September 2008 ergäben sich keine Verschlechterung
und keine entzündliche Aktivität. Auf Veranlassung des SG hat Dr. R. mit Schreiben vom 22. Mai 2011 sein Gutachten sowie die von ihm festgestellten Funktionsstörungen verteidigt.
Er hat zunächst ausgeführt: "Generelle Gegenfrage: Wird für nur leichte Funktionsstörungen eine Erwerbsminderungsrente gewährt?"
Desweiteren hat er mitgeteilt, der Kläger arbeite nicht, sondern sei bei seinem Bruder beschäftigt. Die Äußerung, der Kläger
würde mehr als zwei Stunden arbeiten, sei Ausdruck seiner stirnhirnbedingten unkritischen Selbsteinschätzung. Ein Kraftgrad
von 1/5 bedeute immerhin eine Minderung um 20 %. Es handele sich also um ein deutliches Minus. Auch durch eine unwesentliche
Befundänderung sei eine Änderung. Wenn der Beklagte dies nicht zur Kenntnis nehmen wolle oder könne, könne man das "natürlich
interpretieren". Als "Nachsatz" sei anzumerken, dass die Ausführungen der Ärztin des Versorgungsärztlichen Dienstes auf ihn
"kalt, herzlos, arrogant, unsachlich, gezielt einseitig" wirkten.
Das SG hat den Beteiligten mit Schreiben vom 7. Juni 2011 mitgeteilt, es beabsichtige eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid und
ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme binnen drei Wochen gegeben. Mit Gerichtsbescheid vom 22. Juli 2011 hat das SG den Bescheid des Beklagten vom 19. März 2007 in der Gestalt seines Widerspruchsbescheides vom 27. Mai 2008 abgeändert und
ihn verurteilt, einen GdB von 50 ab Antragstellung festzustellen. Zur Begründung hat es insbesondere ausgeführt, es bestehe
eine Hirnleistungsminderung bei Multipler Sklerose, und sich im Hinblick auf die Leistungsbeeinträchtigungen auf die Ausführungen
des Dr. R. bezogen.
Gegen den am 8. August 2011 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Beklagte am 11. August 2011 Berufung eingelegt. Die bei
dem Kläger festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen seien im Wesentlichen leichtgradig und die Feststellung eines GdB von
50 keinesfalls gerechtfertigt.
Der Beklagte beantragt sinngemäß,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Magdeburg vom 22. Juli 2011 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung des Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Magdeburg vom 22. Juli 2011 zurückzuweisen.
Der Senat hat die Beteiligten im Hinblick auf eine beabsichtigte Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung und eine Zurückverweisung
ohne mündliche Verhandlung an das SG nach §
159 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) angehört. Die Beteiligten haben sich daraufhin mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten Bezug genommen,
die dem Senat bei der Beratung vorgelegen haben.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist im Sinne einer Zurückverweisung begründet. Hierüber konnte der Senat gemäß §§
153 Abs.
1,
124 Abs.
2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil sich die Beteiligten hiermit einverstanden erklärt haben.
Der Gerichtsbescheid des SG vom 22. Juli 2011 war aufzuheben und der Rechtsstreit an das SG zurückzuverweisen.
Nach §
159 Abs.
1 Nr.
2 SGG kann das Landessozialgericht durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen,
wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet. Ein Verfahrensmangel im Sinne dieser Norm ist gegeben, wenn ein Verstoß
gegen eine das Gerichtsverfahren regelnde Vorschrift vorliegt. Wesentlich ist dieser Verfahrensmangel, wenn die Entscheidung
des SG darauf beruhen kann (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 9. Aufl. 2008, §
159 Rdnr. 3, 3a m. w. N.).
Die Entscheidung des SG leidet an einem wesentlichen Verfahrensmangel, denn es hat verfahrensfehlerhaft durch Gerichtsbescheid entschieden. Die Entscheidungsform
setzt gem. §
105 Abs.
1 Satz 1
SGG unter anderem voraus, dass der Sachverhalt geklärt ist. Wesentlich ist, dass im Rahmen der Amtsermittlungspflicht nicht entscheidungserhebliche
tatsächliche Umstände offen bleiben (Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO., § 105 Rdnr. 7).
Der Sachverhalt war nicht hinreichend geklärt im Sinne dieser Norm. Zum einen ist das Gutachten des Facharztes für Neurologie
und Psychiatrie Dr. R. vom 25. November 2010 jedenfalls teilweise nicht schlüssig. Denn seine Begründung, wonach eine deutliche
Leistungsminderung und ein GdB von 50 bereits daraus abzuleiten seien, dass der Kläger Erwerbsminderungsrente beziehe, ist
unzutreffend. Hinzu kommt, dass die ärztlichen Unterlagen, die zur Bewilligung dieser Rente geführt haben, Dr. R. nicht bekannt
gewesen sind, da das SG die diesbezüglichen Verfahrensakten nicht beigezogen hat. Zum anderen ist auch wegen der Meinungsverschiedenheiten zwischen
Dr. R. und der ärztlichen Gutachterin des Beklagten Dr. W. nicht von einem geklärten Sachverhalt auszugehen. Nach der Einholung
des Gutachtens des Dr. R. hat Dr. W. eine sozialmedizinische Stellungnahme vom 17. Januar 2011 abgegeben. Sie hat die Einschätzung
des Sachverständigen mit einer sachlichen Begründung nicht mittragen können. Dr. R. sich hat auf Veranlassung des SG mit dieser Stellungnahme auseinander gesetzt. Die zu Beginn seines Schreibens gestellte rhetorische Frage, ob bei nur leichten
Funktionsstörungen eine Erwerbsminderungsrente gewährt werde, führt nicht zu einer Klärung des Sachverhaltes. Denn hieran
lässt sich erneut die dargestellte Unschlüssigkeit seiner Einschätzung festmachen. Soweit er im Weiteren ausführt, ein Kraftgrad
von 4 von 5 bedeute immerhin eine Minderung um 20 %, widerspricht er seinen eigenen Feststellungen. Denn er hat - wie Dr.
W. zutreffend angemerkt hat - im Gutachten einen Kraftgrad von 4,5 von 5 (für den linken Arm und das linke Bein) und damit
eine Minderung von nur 10 % festgestellt. Die Erklärung, seine gutachtlichen Ausführungen, der Kläger helfe ca. zwei Stunden
täglich in der Fliesenlegerfirma seines Bruders ("Büroarbeiten, Material zusammenstellen, Angebote schreiben, im Computer
ein neues Bad zusammenbasteln"), seien nur dahingehend zu interpretieren, dass dieser dort "beschäftigt" sei, nicht aber,
dass er dort arbeite, führt ebenfalls nicht zu einer Klärung des Sachverhalts. Dr. R. meint weiter, dass "eine unwesentliche
Änderung eine Änderung" sei, und hat hinzugefügt, dass "man das nicht zu Kenntnis nehmen will oder kann". Auch diese Äußerung
hat keine sachliche Substanz und führt nicht zur Klärung des Sachverhaltes. Abschließend ist er zu dem emotionalen "Nachsatz"
gekommen, wonach die Ausführungen der Frau Dr. W. auf ihn "kalt, herzlos, arrogant, unsachlich, gezielt einseitig" wirken
würden. Diese unsachliche Kritik an den Ausführungen der Prüfärztin spricht ebenfalls gegen einen - auf Grundlage des Gutachtens
des Dr. R. - hinreichend geklärten Sachverhalt im Sinne des §
105 Abs.
1 Satz 1
SGG.
In einem solchen Fall ist das SG verpflichtet durch Urteil, d. h. in der Besetzung mit einem hauptamtlichen Richter und zwei ehrenamtlichen Richtern, zu entscheiden.
Da das SG dies verkannt hat, liegt zugleich eine Verletzung des verfassungsrechtlichen Prinzips des gesetzlichen Richters vor (Art.
101 Abs.
5 Grundgesetz). Zudem dürfte auch die vorgeschriebene Anhörung zu dem Gerichtsbescheid fehlerhaft und somit zugleich auch der Grundsatz
des rechtlichen Gehörs verletzt worden sein, da ein konkreter, fallbezogener Hinweis fehlt (Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
aaO., § 105 Rdnr. 10, m. w. N.).
Der Senat hat sich im Rahmen seines Ermessens gemäß §
159 SGG entschieden, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Sache an das SG zurückzuverweisen, weil das Verfahren erst kurze Zeit in der Berufungsinstanz anhängig ist.
Das SG wird auch über die Kosten zu entscheiden haben.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß §
160 Abs.
2 SGG bestehen nicht.