Tatbestand:
Umstritten ist, ob der Beklagte bei der Klägerin zu Recht das Merkzeichen "H" (hilflos) entzogen hat.
Die am ... 2003 geborene Klägerin beantragte über ihre gesetzliche Vertreterin am 17. Juli 2006 die Feststellung von Behinderungen
sowie die Feststellung der Merkzeichen "G" (erheblich beeinträchtigt in der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr), "B" (ständige
Begleitung) und "H" und begründete dies mit einem bilateralen Retinoblastom (bösartiges Netzhautgeschwulst), das zur Entfernung
ihres linken Auges geführt habe. Sie übersandte dem Beklagten diverse medizinische Unterlagen. Hiernach war der Klägerin am
11. Juli 2006 das linke Auge im Zentrum für Augenheilkunde des Universitätsklinikums E. operativ entfernt und am 8. August
2006 ein kleiner Tumor im rechten Auge komplikationslos gelasert worden. Die Wiedervorstellung in der Klinik sei zwischen
dem dritten und vierten Chemoblock in ca. sechs Wochen geplant. Der Versorgungsarzt Dipl.-Med. K. wertete die Befunde aus
und sprach sich unter dem 4. Oktober 2006 für die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 80 aus und begründete
dies mit dem Verlust des linken Auges sowie einer Erkrankung des rechten Auges in Heilungsbewährung. Für die Dauer der geplanten
Chemotherapie sei auch das Merkzeichen "H" zu vergeben. Die Voraussetzungen für andere Merkzeichen lägen dagegen nicht vor.
Dem folgend stellte der Beklagte mit Bescheid vom 18. Oktober 2006 ab dem 17. Juli 2006 einen GdB von 80 sowie das Merkzeichen
"H" fest. Der Bescheid enthielt keine Begründung für das Merkzeichen. Dagegen legte die Klägerin am 30. Oktober 2006 Widerspruch
ein und machte geltend: Auch die Voraussetzungen der Merkzeichen "B" und "G" lägen vor. Zudem müsse der GdB auf 100 festgestellt
werden und der Klägerin ein Ausweis für einen Behindertenparkplatz zuerkannt werden. Dies wertete der Beklagte als neuen Antrag
auf Feststellung des Merkzeichens "aG" (außergewöhnlich gehbehindert). Dem Widerspruch war ein Arztbrief von Prof. Dr. L.
(Universitätsklinikum E.) vom 12. Oktober 2006 beigefügt. Mit Bescheid vom 8. November 2006 lehnte der Beklagte die Feststellung
des Merkzeichens "aG" ab. Dieser Bescheid enthielt keine Rechtsmittelbelehrung und verwies auf das anhängige Verwaltungsverfahren.
Mit bestandskräftigem Widerspruchsbescheid vom 24. Januar 2007 wies der Beklagte den Widerspruch gegen die Bescheide vom 18.
Oktober 2006 und vom 8. November 2006 zurück.
Nach Durchführung der Chemotherapie nahm der Beklagte medizinische Ermittlungen auf und holte Befundunterlagen des Universitätsklinikums
E. ein. Nach einem OP-Bericht vom 19. Dezember 2006 bestehe ein Zustand nach Chemotherapie. Auf der linken Seite sitze die
Augenprothese gut. Rechtsseitig ergäben sich keine Hinweise für neue Tumore. Ähnliche Berichte erstellte das Universitätsklinikum
E. unter dem 30. Januar 2007 und 13. März 2007. Der Vertragsarzt des Beklagten, Medizinalrat Dr. B., hielt in Auswertung der
Befunde wegen der abgeschlossenen Chemotherapie die Voraussetzungen für das Merkzeichen "H" für nicht mehr gegeben. Wegen
der noch laufenden Heilungsbewährungszeit sei im Übrigen nichts an den bisherigen Feststellungen zu verändern. Mit Schreiben
vom 19. September 2007 hörte der Beklagte die Klägerin zu der beabsichtigten Entziehung des Merkzeichens "H" an und begründete
dies mit der nun abgeschlossenen zytostatischen Therapie. Hiergegen wandte sich die Klägerin mit Schreiben vom 25. September
2007 und gab an, die zustehende Heilungsbewährungsfrist sei noch nicht abgelaufen. Es sei daher zu bezweifeln, ob alle Unterlagen
zur Einschätzung ihres Gesundheitszustandes vorgelegen hätten und die Versorgungsärzte auf dem Gebiet der Augenheilkunde hinreichend
kompetent seien.
Mit Bescheid vom 16. Oktober 2007 entzog der Beklagte das Merkzeichen "H" ab dem 1. November 2007 und führte aus: Nach Beendigung
der Chemotherapie seien die Voraussetzungen für die weitere Gewährung des Merkzeichens "H" nicht mehr gegeben. Der GdB von
80 bleibe während der Heilungsbewährungszeit weiterhin festgestellt. Hiergegen legte die Klägerin am 22. Oktober 2007 Widerspruch
ein: Nach den vorliegenden ärztlichen Unterlagen lägen die Voraussetzungen des Merkzeichens "H" weiterhin vor. Es werde die
Überprüfung durch einen Facharzt für Augenheilkunde und Onkologie beantragt. Mit Widerspruchsbescheid vom 29. Oktober 2008
änderte der Beklagte den Bescheid vom 16. Oktober 2007 und hob den Bescheid vom 18. Oktober 2006 auf. Bei der Klägerin sei
eine ständige Begleitung nicht notwendig, weil sie bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln nicht behinderungsbedingt
ständig auf fremde Hilfe angewiesen sei. Deshalb sei das beantragte Merkzeichen "B" abzulehnen. Die Voraussetzungen des Merkzeichen
"H" seien auch nicht mehr gegeben.
Hiergegen hat die Klägerin am 26. November 2008 Klage beim Sozialgericht Magdeburg (SG) erhoben und zur Begründung ausgeführt: Sie sei wegen ihres Alters ohnehin hilflos. Den Bescheiden der Beklagten fehle eine
Erklärung, warum das Merkzeichen "H" nur während der Chemotherapie zuerkannt werden könne. Das Ende der chemotherapeutischen
Behandlung bedeute doch nicht das Ende der Erkrankung. Schließlich müsse die Klägerin unverändert mit Rezidiven rechnen. Die
Versorgungsämter anderer Bundesländer würden vergleichbar betroffenen Kindern regelmäßig einen GdB von 100 sowie die Merkzeichen
"B" und "H" zuerkennen. Die Augenprothese und die Erkrankung machten regelmäßige Portspülungen bzw. teilstationäre Untersuchungen
erforderlich.
Am 7. September 2010 hat die Klägerin auf gerichtliche Anfrage klargestellt, dass die Vergabe des Merkzeichens "B" im vorliegenden
Klageverfahren nicht weiter verfolgt werde. Mit Urteil vom 15. September 2010 hat das SG den Bescheid vom 16. Oktober 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Oktober 2008 aufgehoben und zur Begründung
ausgeführt, dass keine Änderungen in den tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen festzustellen seien. Weder gäbe es Hinweise
für eine Besserung der Gesundheitsstörung noch für einen abgelaufenen Reifungsprozess der Klägerin, der sie nun befähige,
mit ihrer Behinderung selbstständiger und eigenverantwortlicher umzugehen. Es müsse daher weiter von einer Hilflosigkeit im
Sinne des Merkzeichens "H" ausgegangen werden. Entgegen der Auffassung des Beklagten sei wegen der schweren Tumorerkrankung
weiterhin von einem GdB von 80 auszugehen. Der Begriff Sehbehinderung im Sinne der Anhaltspunkte 2004 Ziffer 26.4 umfasse
auch die Erkrankung eines malignen Augentumors nach Ziffer 4.8 bzw. Ziffer 26.4. der Anhaltspunkte.
Der Beklagte hat gegen das ihm am 17. September 2010 zugestellte Urteil am 6. Oktober 2010 Berufung beim Landessozialgericht
Sachsen-Anhalt (LSG) eingelegt und zur Begründung ausgeführt: Bei der Klägerin bestehe keine Einschränkung des Sehvermögens,
die einen GdB um 80 und somit das Merkzeichen "H" bis zur Beendigung der Blinden- bzw. Sehbehindertenschule rechtfertigen
könne. Der Verlust bzw. die Erblindung eines Auges bedinge lediglich einen GdB um 30. Um einen GdB von 80 aufgrund einer Sehbehinderung
zu erlangen, müsse das Sehvermögen des verbliebenen Auges auf 0,16 (16%) reduziert sein, was nicht der Fall sei. Eine wesentliche
Einschränkung des Sehvermögens des rechten Auges gehe aus keinem der aktenkundigen Befundberichte hervor, so dass das Merkzeichen
"H" habe entzogen werden müssen.
Der Beklagte beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen, das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 15. September 2010
aufzuheben und die Klageabzuweisen.
Die Klägerin beantragt nach ihrem schriftlichen Vorbringen,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das Urteil des SG für zutreffend und sich selbst für weiterhin behandlungsbedürftig.
Der Senat hat Befundberichte der Kinderarztpraxis Dr. G. vom 25. März 2011, der Fachärztin für Augenheilkunde Dr. B. vom 31.
März 2011, der Fachärztin für Haut- und Geschlechtskrankheiten Dr. K. vom 9. April 2011 und des Facharztes für Nasen- und
Ohrenheilkunde Dr. S. vom 8. Juni 2011 eingeholt. Dr. G. hat über einen unveränderten Retinoblastombefund sowie eine altersgerechte
Infektanfälligkeit berichtet. Dr. B. hat den Visus rechts mit 1,0 ohne Korrektur angegeben. Seit der abgeschlossenen Chemotherapie
im Jahr 2006 sei der augenärztliche Befund stabil. Dr. K. hat seit Mai 2007 über einen unauffälligen Hautbefund berichtet.
Dr. S. hat in der Zeit von 2006 bis 2008 eine einmalige Behandlung angegeben.
In einer nichtöffentlichen Sitzung vor dem LSG hat die Kindesmutter am 30. September 2011 mitgeteilt: Ende des Jahres 2006
sei die Chemotherapie bei der Klägerin beendet worden. Diese befinde sich halbjährlich in der ständigen Kontrolle der Augenklinik
M. und einer Spezialklinik in E ... Als besonderer Pflegeaufwand bestehe bei ihr ein spezieller Hygieneaufwand für das linke
Auge. Durch die erhebliche Sichtbehinderung sei es wiederholt zu schweren Unfällen gekommen, die notfallmäßig behandelt werden
mussten.
Am 17. Oktober 2011 hat sich der Beklagte und am 9. November 2011 die Klägerin mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung
einverstanden erklärt.
Die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte des Beklagten haben vorgelegen und waren Gegenstand der Beratung und Entscheidung
des Senats. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Sachvortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte und der Verwaltungsakte ergänzend verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, nachdem sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt
haben (§
153 Abs.
1 i.V.m. §
124 Abs.
2 Sozialgesetzbuch (
SGG)).
Die Berufung ist nach §
143 SGG statthaft und gemäß §
141 Abs.
2 SGG form- und fristgerecht eingelegt. Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits ist eine isolierte Anfechtungsklage gemäß §§
153,
54 Abs.
1 SGG gegen einen belastenden Verwaltungsakt. Daher bezieht sich die Prüfung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide auf
die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt des Widerspruchsbescheids des Beklagten vom 29. Oktober 2008 (vgl. BSG, Urteil vom 18.
September 2003, B 9 SB 6/02 R mit weiteren Rechtsprechungshinweisen).
Die Berufung ist begründet. Der Beklagte hat zu Recht mit Bescheid vom 16. Oktober 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids
vom 29. Oktober 2008 den Bescheid vom 8. November 2006 aufgehoben, den bisherigen GdB von 80 erneut festgestellt und das Merkzeichen
"H" seit dem 1. November 2007 entzogen.
Die angefochtenen Bescheide sind formell rechtmäßig. Insbesondere hat der Beklagte die Klägerin nach § 24 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) mit Schreiben vom 19. September 2007 zum beabsichtigten Entzug des Merkzeichens "H" angehört.
Bei dem angefochtenen Bescheid in Gestalt des abändernden Widerspruchbescheides handelt es sich um einen Herabsetzungsbescheid
gem. § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung für die Zukunft aufzuheben, wenn in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen,
die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Als wesentliche Änderung des Gesundheitszustandes
gilt, wobei dies sowohl hinsichtlich der Besserung als auch der Verschlechterung anzunehmen ist, jedenfalls eine Veränderung,
die es erforderlich macht, ein Merkzeichen zu entziehen. Mit Bescheid vom 18. Oktober 2006 sind ab 17. Juni 2006 der GdB von
80 sowie das Merkzeichen "H" festgestellt worden. In der Zeit zwischen Erlass dieses Bescheides und des Widerspruchsbescheides
vom 29. Oktober 2008 ist bezüglich des Merkzeichens "H" eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen eingetreten,
die dessen Vergabe nicht mehr rechtfertigen. Wegen der Beendigung der Chemotherapie seit Ende des Jahres 2006 liegen bei der
Klägerin die Voraussetzungen einer Hilflosigkeit für das Merkzeichen "H" spätestens seit dem 1. November 2007 nicht mehr vor.
Die fehlende Begründung im Bescheid vom 18. Oktober 2006 für die Zuerkennung des Merkzeichens "H" bleibt rechtlich folgenlos.
Bei der Zuerkennung des Merkzeichens "H" handelt es sich um eine sog. gebundene Entscheidung. Nach § 35 Abs. 1 Satz 2 SGB X sind in einem Verwaltungsakt die wesentlichen und tatsächlichen Gründen mitzuteilen. Bei gebundenen Entscheidungen wirken
sich Begründungsmängel grundsätzlich nicht aus und rechtfertigen regelmäßig keine Aufhebung des Bescheides. Bei ihnen kann
die fehlende Begründung auch im weiteren Verfahrensverlauf noch nachgeholt werden (vgl. § 41 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2, § 42 SGB X). Hier hat der Beklagte im Anhörungsschreiben und im Bescheid vom 16. Oktober 2007 nachträglich mitgeteilt, dass das Merkzeichen
"H" wegen der durchgeführten Chemotherapie zuerkannt worden sei und nun nicht mehr festgestellt bleiben könne. Damit hat der
Beklagte die fehlende Begründung im Bescheid vom 18. Oktober 2006 nachgeholt und das Begründungsdefizit geheilt.
Nach §
69 Abs.
4 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (
SGB IX) vom 19. Juni 2001 hat der Beklagte über das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Feststellung des Nachteilsausgleiches
"H" zu entscheiden. Im Schwerbehindertenausweis ist das Merkzeichen "H" einzutragen, wenn der schwerbehinderte Mensch hilflos
im Sinne des §
33 b Einkommenssteuergesetz (
EStG) oder entsprechender Vorschriften ist (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 Schwerbehindertenausweisverordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Juli 1991 [BGBl. I S. 1739], zuletzt geändert durch Artikel 7 des Gesetzes vom
2. Dezember 2006 [BGBl. I S. 2742]).
Gemäß §
33 b Abs.
6 Satz 3
EStG ist eine Person hilflos, wenn sie für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung ihrer
persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedarf. Diese Voraussetzungen sind nach Satz 4 der
Vorschrift auch erfüllt, wenn die Hilfe in Form einer Überwachung oder einer Anleitung zu den in Satz 3 dieser Vorschrift
genannten Verrichtungen erforderlich ist oder wenn die Hilfe zwar nicht dauernd geleistet werden muss, jedoch eine ständige
Bereitschaft zur Hilfeleistung erforderlich ist. Die so umschriebene Hilflosigkeit geht auf die Kriterien zurück, die von
der Rechtsprechung im Zusammenhang mit den gleich lautenden Voraussetzungen für die Pflegezulage nach § 35 BVG entwickelt worden sind (BSG, Urteil vom 24. November 2005, B 9a SB 1/05 R, zitiert nach juris m.w.N.). Dabei hat sich der
Gesetzgeber bewusst nicht an den Begriff der Pflegebedürftigkeit im Sinne der §§
14,
15 des Elftes Buches des Sozialgesetzbuches - Soziale Pflegeversicherung - (
SGB XI) angelehnt.
Bei den gemäß §
33 Abs.
6 EStG zu berücksichtigenden Verrichtungen handelt es sich um solche, die im Ablauf eines jeden Tages unmittelbar zur Wartung, Pflege
und Befriedigung wesentlicher Bedürfnisse des Betroffenen gehören sowie häufig und regelmäßig wiederkehren (BSG, Urteil vom
24. November 2005, aaO., RdNr. 14). Dazu zählen zunächst die auch von der Pflegeversicherung nach §
14 Abs.
4 SGB XI erfassten Bereiche der Grundpflege, also der Körperpflege (Waschen, Duschen, Baden, Zahnpflege, Kämmen, Rasieren, Darm- und
Blasenentleerung), der Ernährung (mundgerechtes Zubereiten und Aufnahme der Nahrung) und der Mobilität (Aufstehen, Zubettgehen,
An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen, Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung). Hinzu kommen Verrichtungen
in den Bereichen der psychischen Erholung, geistigen Anregungen und der Kommunikation (hier insbesondere Sehen, Hören, Sprechen
und Fähigkeit zu Interaktionen), während Verrichtungen im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung nicht eingeschlossen
sind (ständige Rechtsprechung des BSG, zuletzt Urteil vom 24. November 2005, aaO., RdNr. 15 m.w.N.). Soweit die Anleitung,
Überwachung und Bereitschaft bei den einzelnen Verrichtungen zu berücksichtigen ist, ist allerdings zu beachten, dass bei
der Anrechnung von Bereitschaftszeiten grundsätzlich nur solche Zeiten berücksichtigt werden können, die zeitlich und örtlich
denselben Einsatz erfordern wie körperliche Hilfe (BSG, Urteil vom 12. Februar 2003, B 9 SB 1/02 R, zitiert nach juris, RdNr. 20 m.w.N.). Dies setzt voraus, dass eine entsprechende einsatzbereite Anwesenheit und Aufmerksamkeit
aus gesundheitlichen Gründen notwendig ist (BSG, Urteil vom 12. Februar 2003, aaO., RdNr. 20 m.w.N.). Allgemeine Einschränkungen
der Orientierungs- und der Kommunikationsfähigkeit machen nur gelegentliche Hilfeleistungen erforderlich und bleiben daher
außer Betracht (BSG, Urteil vom 8. März 1995, 9 RVs 5/94, zitiert nach juris). Die in §
33 b Abs.
6 Satz 3
EStG vorausgesetzte Reihe von Verrichtungen kann erst dann angenommen werden, wenn es sich um mindestens drei Verrichtungen handelt,
die einen Hilfebedarf in erheblichem Umfang erfordern (zuletzt BSG, Urteil vom 24. November 2005, aaO., m.w.N., RdNr. 16 f.).
In welchen Fällen regelmäßig von einem erheblichen Hilfebedarf in diesem Sinne ausgegangen werden kann, wird in den Anhaltspunkten
für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2
SGB IX - Ausgabe 2008) ausgeführt. Diese Anhaltspunkte, deren als zum Zeitpunkt des Widerspruchsbescheides maßgebliche Ausgabe im
Jahre 2008 vom damaligen Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung herausgegeben worden war, haben zwar keine
Normqualität. Sie sind aber als vorweggenommene Sachverständigengutachten anzusehen, die in der Praxis wie Richtlinien für
die ärztliche Gutachtertätigkeit wirken, deshalb normähnliche Auswirkungen haben und im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung
in ihrer jeweiligen Fassung wie untergesetzliche Normen von den Gerichten anzuwenden sind (vgl. BSG, Urteil vom 18. September
2003, B 9 SB 3/02 R; Urteil vom 9. April 1997, 9 RVs 4/95, jeweils zitiert nach juris). Nach Ziffer 21 Abs. 6 der Anhaltspunkte kann im Allgemeinen und ohne nähere Prüfung bei einer
Reihe schwerer Behinderungen, die aufgrund ihrer Art und besonderer Auswirkungen regelhaft Hilfeleistungen in erheblichem
Umfang erfordern, von einem erheblichen Hilfebedarf ausgegangen werden. Das gilt stets bei Blindheit und hochgradiger Sehbehinderung,
Querschnittslähmung und anderen Behinderungen, die auf Dauer und ständig auch innerhalb des Wohnraums die Benutzung eines
Rollstuhls erfordern. Das gilt in der Regel auch bei Hirnschäden, Anfallsleiden, geistiger Behinderung und Psychosen, wenn
diese Behinderungen allein einen Grad der Behinderung von 100 bedingen. Soweit keine Regelbeispiele eingreifen, ist es mit
Blick auf die gesetzlichen Vorgaben in der sozialen Pflegeversicherung sachgerecht, die Erheblichkeit des Hilfebedarfs in
erster Linie nach dem täglichen Zeitaufwand für erforderliche Betreuungsleistungen zu beurteilen (ständige Rechtsprechung
des BSG, vgl. dazu und zum Nachfolgenden Urteil vom 24. November 2005, aaO., RdNr. 16 f. sowie Urteil vom 12. Februar 2003,
aaO., RdNr. 15 f.). Da die Begriffe der Pflegebedürftigkeit nach §§
14,
15 SGB XI und der Hilflosigkeit nach §
33 b EStG nicht völlig übereinstimmen, können die zeitlichen Grenzwerte der sozialen Pflegeversicherung zwar nicht unmittelbar übernommen
werden, sie lassen sich jedoch als gewisse Orientierungspunkte nutzen. Nach diesem Maßstab ist nicht hilflos, wer nur in relativ
geringem Umfang, täglich etwa eine Stunde, auf fremde Hilfe angewiesen ist. Daraus folgt aber nicht im Umkehrschluss, dass
bei einem Überschreiten dieser Mindestgrenze in jedem Fall Hilflosigkeit zu bejahen ist. Aufgrund des soeben dargestellten
erweiterten Maßstabs bei der Prüfung von Hilflosigkeit gegenüber dem Bereich der Grundpflege bei der Pflegeversicherung wird
leichter ein größerer Zeitaufwand für fremde Betreuungsleistungen erreicht, sodass von einer Zwei-Stunden-Grenze auszugehen
ist. Schließlich spricht für eine Grenzziehung bei einem Hilfeaufwand von zwei Stunden die Vorschrift des §
33 b EStG selbst, denn die Höhe des steuerlichen Pauschbetrages hebt sich außerordentlich von dem Pauschbetrag ab, der behinderten
Menschen mit einem Grad der Behinderung von 100 zusteht. Dieser Begünstigungssprung ist nur bei zeitaufwändigen und deshalb
entsprechend teuren Hilfeleistungen erklärbar und gerechtfertigt. Um allerdings auch den individuellen Verhältnissen Rechnung
tragen zu können, ist aber nicht allein auf den zeitlichen Betreuungsaufwand abzustellen; vielmehr kommt auch den weiteren
Umständen der Hilfeleistung, insbesondere deren wirtschaftlichem Wert, Bedeutung zu. Dieser Wert wird wesentlich durch die
Zahl und die zeitliche (gegebenenfalls ungünstige) Verteilung der Verrichtungen bestimmt (BSG, Urteil vom 24. November 2005,
aaO.).
Bei Kindern und Jugendlichen kann im Vergleich zu Erwachsenen mit derselben Erkrankung nach Ziffer 22 der Anhaltspunkte (Ausgabe
2008, S. 28 ff.) selbst bei einem gleichbleibenden Krankheitsverlauf die Annahme des Merkzeichens "H" eher gerechtfertigt
sein, weil nicht nur die Anleitung zu den in Ziffer 21 Abs. 3 Sätze 1 und 2 genannten Verrichtungen, sondern auch die Förderung
der körperlichen und geistigen Entwicklung sowie die notwendige Überwachung zu den berücksichtigungsfähigen Hilfeleistungen
gehört. Die Besonderheiten des Kindesalters führen dazu, dass zwischen dem Ausmaß der Behinderung und dem Umfang der wegen
der Behinderung erforderlichen Hilfeleistungen nicht immer eine Korrelation besteht, sodass anders als bei Erwachsenen auch
schon bei niedrigeren GdB/MdE-Werten Hilflosigkeit vorliegen kann. Bei einer geistigen Behinderung eines Kindes kommt nach
Ziffer 22 Abs. 4a der Anhaltspunkte (Ausgabe 2008, S. 29) auch dann in der Regel bis zur Vollendung des 18. Lebensjahrs Hilflosigkeit
in Betracht, insbesondere wenn das Kind wegen gestörten Verhaltens ständiger Überwachung bedarf. Bei hirnorganischen Anfallsleiden
ist nach Abs. 4c häufiger als bei Erwachsenen auch bei GdB-Werten unter 100 unter Berücksichtigung der Anfallsfrequenz und
eventueller Verhaltensauffälligkeiten die Annahme von Hilflosigkeit gerechtfertigt. Ist Volljährigkeit eingetreten, sind dagegen
die allgemeinen gesetzlichen Vorschriften also §
33 b Abs.
6 Satz 3
EStG und die allgemeinen Vorschriften der Anhaltspunkte zur HiIflosigkeit anzuwenden.
Nach diesem rechtlichen Rahmen hat der Beklagte das Merkzeichen "H" zu Recht entzogen, da nach Beendigung der Chemotherapie
eine wesentliche Änderung der Verhältnisse eingetreten ist und die Voraussetzungen des Merkzeichens "H" bei der Klägerin zum
Prüfungszeitpunkt nicht mehr vorgelegen haben.
Zunächst hat der Beklagte zutreffend wegen des Retinoblastoms, dass zum Verlust des linken Auges und einer Tumorbehandlung
auf der rechten Seite geführt hat, einen GdB von 80 für fünf Jahre in Heilungsbewährung festgestellt (vgl. Anhaltspunkte 2008,
Ziffer 26.4., S. 56). Nach Ziffer 22 der Anhaltspunkte 2008 (S. 28 ff) kann bei sehbehinderten Kindern eine Hilflosigkeit
angenommen werden, wenn es sich um Einschränkungen des Sehvermögens handelt, die für sich allein einen GdB/MdE-Grad von wenigstens
80 bedingen und bei diesen Behinderten dann bis zur Beendigung der speziellen Schulausbildung für Sehbehinderte - Hilflosigkeit
anzunehmen ist (vgl. Anhaltspunkte 2008, Ziffer 22 Abs. 4 d, S. 29). Entgegen der Ansicht des SG hat die Klägerin die Voraussetzung einer Einschränkung des Sehvermögens, die mit einem GdB von 80 verbunden ist, nie erfüllt.
Dies war auch nicht die Grundlage der Entscheidung des Beklagten, der Klägerin das Merkzeichen "H" überhaupt zuzuerkennen.
Bei ihr liegt keine Einschränkung des Sehvermögens von wenigstens 80 im Sinne der Anhaltspunkte 2008 Ziffer 22 Abs. 4 d vor.
Der Verlust eines Auges mit dauernder, einer Behandlung nicht zugänglichen Eiterung der Augenhöhe wird mit einem GdB von 40
bewertet und die Sehschärfe eines Auges von weniger als 0,1 rechtfertigt einen GdB von 25 bis 30 (vgl. Anhaltspunkte 2008,
Ziffer 26.4, S. 51). Die rein funktionale - unabhängig von der Frage der sog. Heilungsbewährung - bestehende Sehbehinderung
der Klägerin rechtfertigt daher allenfalls einen Einzel-GdB von 40, da das rechte Auge einen vollständigen Visus von 1,0 aufgewiesen
hat. Der bei der Klägerin festgestellte GdB von 80 in Heilungsbewährung ist einer Sehbehinderung im Sinne der Anhaltspunkte
2008, Ziffer 22 Abs. 4 d damit nicht gleichzusetzen. Ziffer 22 Abs. 4 d der Anhaltspunkte 2008 bezieht sich nach seinem klaren
Wortlaut vielmehr auf die rein funktionale Sehbehinderung und kann auf sog. Heilungsbewährungsfälle nicht übertragen werden.
Für maligne Erkrankungen - wie das Retinoblastom der Klägerin - finden sich die gesonderten Voraussetzungen für das Merkzeichen
"H" erst in den Anhaltspunkten Ziffer 22 Abs. 4 n. Danach ist bei malignen Erkrankungen (z.B. akute Leukämie) bei Kindern
und Jugendlichen eine Hilflosigkeit für die Dauer der zytostatischen Intensiv-Therapie anzunehmen (ständige Überwachung wegen
Infektions- und Blutungsgefahr erforderlich). Diese gesonderte Erwähnung von malignen Erkrankungen und die Anknüpfung an eine
Chemotherapie im Zusammenhang mit der Zuerkennung des Merkzeichens "H" spricht dafür, dass die Besonderheiten der Beurteilung
der Hilflosigkeit bei Kindern und Jugendlichen bei malignen Erkrankungen - wie hier - diese betroffene Gruppe nur in der Zeit
der Chemotherapie privilegiert, nicht jedoch während der gesamten Heilungsbewährungszeit. Diese begrenzte Privilegierung ist
auch sachlich gerechtfertigt, weil bei Kindern und Jugendlichen wegen der besonderen Infektions- und Blutungsgefahr eine ständige
Überwachung in der Zeit der Chemotherapie erforderlich ist. Dieser besondere Überwachungsbedarf liegt bei der Klägerin nach
Abschluss der Chemotherapie im Jahr 2006 nicht mehr vor. Der gesonderte Hilfebedarf der Klägerin beschränkt sich zum Prüfungszeitpunkt
auf die Einhaltung bestimmter Hygieneerfordernisse, erstreckt sich jedoch nicht auf die für das Merkzeichen "H" beschriebenen
alltäglichen Verrichtungen in dem dort geltenden Umfang. Diese Verrichtungen kann die Klägerin altersgerecht bewältigen, wofür
auch spricht, dass sie offenbar nicht die Voraussetzungen der Pflegestufe I im Sinne des
SGB XI erfüllt oder entsprechende Leistungen bei der Pflegekasse beantragt hat. Eine behinderungsbedingte Hilflosigkeit im Sinne
des Merkzeichens ist angesichts dieses Sachverhaltes nicht anzunehmen.
Für diese Auslegung spricht auch die generelle Privilegierung der sog. Heilungsbewährungsfälle, die unabhängig von den Voraussetzungen
des Merkzeichens "H" zu sehen ist. Die Zeitdauer der Heilungsbewährung bei malignen Erkrankungen gründet sich auf Erkenntnissen
der medizinischen Wissenschaft über die Gefahr des Auftretens einer Rezidiverkrankung in den ersten Jahren nach der Erstbehandlung
sowie der regelmäßig vorhandenen subjektiven Furcht vor einem Rezidiv. Die Heilungsbewährung erfasst darüber hinaus auch die
vielfältigen Auswirkungen, die mit der Feststellung, der Beseitigung und der Nachbehandlung eines Tumors in allen Lebensbereichen
verbunden sind. Dies rechtfertigt es nach der sozialmedizinischen Erfahrung, bei Krebserkrankungen zunächst nicht nur den
Organverlust, sondern das Gesamtbild der Erkrankung zu bewerten. Dies rechtfertigt es für einen gewissen Zeitraum unterschiedslos
von einem deutlich höheren GdB-Wert auszugehen. Die pauschale Berücksichtigung körperlicher und seelischer Auswirkungen der
Erkrankung im Rahmen der Heilungsbewährung hat bei der streng funktional geprägten Prüfung des Merkzeichens "H" dagegen keine
Bedeutung.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.