Anspruch eines nachrangig verpflichteten Leistungsträgers gegen vorrangig verpflichteten Leistungsträger (hier: Träger der
Jugendhilfe) auf Erstattung von erbrachten Sozialleistungen; Vorrangigkeit der Leistungen der Jugendhilfe gegenüber den Leistungen
der Sozialhilfe
Gründe
I.
Der Kläger begehrt von der Beklagten Kostenerstattung nach § 104 SGB X, nachdem er bezüglich des Leistungsempfängers T. E. gemäß § 72 BSHG für die Zeit vom 13. Februar 2002 bis zum 7. August 2002 die Kosten seiner Betreuung in der Einrichtung "WG B.----straße / " in B1. getragen hat.
Hinsichtlich der Hintergründe der Leistungsgewährung und der biographischen Entwicklung des Leistungsempfängers wird im Hinblick
auf den Zeitraum bis zur erstinstanzlichen Entscheidung auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen, wonach
sich im Wesentlichen folgendes ergibt:
Der Leistungsempfänger konsumierte seit etwa seinem 11. Lebensjahr Drogen und lief im Alter von 15 Jahren erstmals von zu
Hause weg. Anschließend hat er mehrere Monate auf der Straße gelebt. Er kam dann in eine stationäre Einrichtung der Jugendhilfe,
von wo aus er nach etwa sechs Wochen zu seinen Eltern zurückkehrte. Nach etwa sechs weiteren Monaten verließ er sein Elternhaus
erneut, wurde straffällig und geriet in Untersuchungshaft, wo er etwa vier Monate lang verblieb. Anschließend wurde er erneut
in den Haushalt seiner Eltern entlassen und unterzog sich einer vom Gericht auferlegten Therapie. In dieser Zeit begann er
eine Ausbildung zum Metzger, die er allerdings im Jahre 2001 im Alter von 19 Jahren abbrach. Seit dem verfügte der Leistungsempfänger
nicht mehr über einen festen Wohnsitz und war an verschiedenen Orten in ganz Deutschland aufhältig, schwerpunktmäßig in X.
, wo er weitere Straftaten aus dem Bereich der Beschaffungskriminalität beging. Schließlich geriet er erneut in Haft.
Am 13. Februar 2002 wurde er aus der Haft entlassen und trat nahtlos in die Einrichtung "Teilstationäres Wohnen B.----straße
" über, eine Wohngruppe des D. .
Ein noch unter dem gleichen Datum mit Hilfe der Einrichtung gefertigter und am 14. Februar 2002 eingegangener Antrag des Hilfeempfängers
auf Jugendhilfe an das Jugendamt der Stadt I. , in dem er seinem Wunsch nach der Erlangung einer größeren Eigenständigkeit
Ausdruck verlieh, wurde zuständigkeitshalber am 14. März 2002 an die Beklagte weitergeleitet. Nachdem der Hilfeempfänger dort
noch am 21. März 2002 Angaben zur Niederschrift gemacht hatte, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 23. April 2002 die Leistung
von Hilfe nach § 41 SGB VIII ab. Dies begründete die Beklagte tragend damit, nicht zur Gewährung der beantragten Hilfe in der Lage zu sein. Zur Prüfung
des Antrags habe sie den Hilfeempfänger für den 11. April 2002 vorgeladen. Zu diesem Termin sei er nicht erschienen. Sie sei
daher nicht in der Lage, in eine genauere Prüfung des Anliegens einzusteigen und stelle fest, dass die zwingend erforderliche
persönliche Mitarbeit i.S.d. § 41 SGB VIII beim Leistungsempfänger nicht gegeben sei.
In einem Bericht der betreuenden Einrichtung vom 24. Mai 2002 heißt es, der Leistungsempfänger habe in der JVA den Wunsch
geäußert, seine Ausbildung zum Metzger zu beenden, drogen- und straffrei zu leben, um zukünftig eigenverantwortlich leben
zu können. Im Verlaufe der Hilfe sei jedoch bald deutlich geworden, dass offenbar eine psychische Störung vorliege. Der Leistungsempfänger
mache einen verwirrten Eindruck, er sei nicht in der Lage, die einfachsten Dinge zu erledigen und verstehe in Gesprächen oft
die Sinnzusammenhänge nicht. Auffällig sei auch, dass er zur Verwahrlosung innerhalb kürzester Zeit neige, desorientiert sei
und Selbstzerstörungstendenzen sowie Autoagressionen aufweise.
Nachdem der Leistungsempfänger schon am 26. Februar 2002 bei dem Sozialamt der Stadt B. auch einen Antrag auf Sozialhilfe
für Personen mit besonderen sozialen Schwierigkeiten nach § 72 BSHG gestellt hatte, der umgehend an den Kläger weitergeleitet wurde, gewährte dieser ihm mit Bescheid vom 29. Mai 2002 die begehrte
Hilfe nach § 72 BSHG und übernahm die Kosten für seine Betreuung in der Einrichtung rückwirkend ab dem 13. Februar 2002. Ebenfalls unter dem 29.
Mai 2002 meldete der Kläger seinen Kostenerstattungsanspruch bei der Beklagten an.
Mit Schreiben vom 30. Juli 2002 teilte die betreuende Einrichtung mit, es sei bislang kaum möglich gewesen, die vereinbarten
Betreuungsziele umzusetzen; man vermute eine psychische Störung und wolle ein psychiatrisches Gutachten einholen. Kurz darauf
teilte die Einrichtung in ihrem Abschlussbericht vom 13. August 2002 mit, der Leistungsempfänger sei seit dem 7. August 2002
aufgrund mangelnder Mitwirkung und wegen Verstößen gegen die Hausordnung entlassen worden. Er habe Symptome einer Psychose
aufgewiesen. Außerdem habe man festgestellt, dass er beständig Drogen konsumiert habe.
Aus psychiatrischen Untersuchungsberichten aus dem Jahre 2003 geht hervor, dass beim Leistungsempfänger schließlich eine drogeninduzierte
Psychose diagnostiziert worden ist, der Verdacht der Einrichtung sich also bestätigt hat.
Die Beklagte hat den Erstattungsanspruch zurückgewiesen und dies vor allem damit begründet, sie habe dem Leistungsempfänger
gegenüber mit bestandskräftigem Bescheid vom 24. April 2002 die Hilfe abgelehnt. Dieser habe nicht ausreichend kooperiert
und einen Besprechungstermin nicht wahrgenommen, in dem u.a. seine Drogensucht hätte besprochen werden sollen.
Der Kläger hat sodann am 25. November 2006 vor dem Verwaltungsgericht Erstattungsklage erhoben. Die Hilfen nach § 72 BSHG einerseits und § 41 SGB VIII andererseits könnten in einem Konkurrenzverhältnis stehen, wobei nach § 10 SGB VIII ein Vorrang der Jugendhilfe anzunehmen sei. Die Rechtsprechung des OVG NRW, wonach die ihm - dem Kläger - bekanntgegebene
und bestandskräftig gewordene Ablehnung des Jugendhilfeträgers einer Geltendmachung eines Kostenbeitrags entgegenstehe, lasse
er nicht gegen sich gelten.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, ihm die von ihm in der Zeit vom 13. Februar 2002 bis zum 7. August 2002 im Hilfefall T. E. erbrachten
Aufwendungen in Höhe von 8.736,64 Euro nebst 5 % Zinsen über dem jeweiligen Basissatz seit Rechtshängigkeit zu erstatten.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie ist der Klage entgegengetreten und hat sich auf den Standpunkt gestellt, ihre Einschätzung im ablehnenden Bescheid, der
Leistungsbezieher lasse es an der erforderlichen Mitwirkung mangeln, sei durch die weitere Entwicklung des Hilfefalls bestätigt
worden. Außerdem stehe die Rechtskraft des ablehnenden Bescheides, der dem Kläger zeitnah bekannt geworden sei, Kostenerstattungsansprüchen
gemäß § 104 SGB X nach der Rechtsprechung des OVG NRW sehr wohl entgegen.
Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit dem angefochtenen Urteil abgewiesen und seine Entscheidung dabei maßgeblich auf die
von der Beklagten in Anspruch genommene Rechtsprechung des OVG NRW gestützt. Der Kläger müsse sich den bestandskräftigen Ablehnungsbescheid
der Beklagten vom 23. April 2002 nach § 86 SGB X i.V.m. § 91 a BSHG entgegenhalten lassen.
Mit Beschluss vom 11. Mai 2010 hat der Senat die Berufung des Klägers zugelassen, weil dadurch, dass der Bescheid der Beklagten
vom 23. April 2002 offensichtlich unrichtig gewesen sei und deshalb keine Bindungswirkung habe entfalten können, Zweifel an
der Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung bestünden.
Der Kläger macht sich zur Begründung seiner Berufung die Ausführungen des Zulassungsbeschlusses zu eigen und trägt ergänzend
dazu vor, dass für den streitigen Leistungszeitraum auch die Voraussetzungen der - nach Maßgabe von § 10 Abs. 2 SGB VIII a.F. vorrangigen - §§ 41, 35 a SGB VIII vorgelegen haben. Tatbestandsvoraussetzungen des § 41 SGB VIII seien das Vorliegen von Mängeln in der Persönlichkeitsentwicklung und die fehlende Fähigkeit, die Lebensführung eigenverantwortlich
zu gestalten. Liege - wie hier - eine seelische Behinderung vor, sei vorrangig der Jugendhilfeträger für die Leistungserbringung
zuständig. Als krankheitsbedingte Zustandsabweichungen, welche typischerweise zu den seelischen Behinderungen zu zählen seien,
gehörten u.a. Schizophrenien sowie schizotype und wahnhafte Störungen, so dass mit der Verschiebung der Zielrichtung der Hilfe,
davon, mit der Abwendung drohender Obdachlosigkeit sowie der Weiterführung der abgebrochenen Ausbildung auf ein selbstbestimmteres
Leben hinzuwirken, hin zur Bewältigung der psychischen Erkrankung des Hilfeempfängers als eines Hinderungsgrundes für ein
selbstbestimmteres Leben, kein Vorrangwechsel verbunden sei.
Die Drogensucht des Leistungsempfängers habe die erforderlichen Erfolgsaussichten für Maßnahmen der Jugendhilfe nicht entscheidend
eingeschränkt. Eine Hilfe für junge Volljährige biete nämlich schon dann hinreichende Aussicht auf Erfolg, wenn innerhalb
des der Hilfegewährung zugänglichen Zeitraums eine spürbare Verbesserung der Persönlichkeitsentwicklung des jungen Volljährigen
und seiner Fähigkeit zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung zu erwarten sei. Zu Beginn der Maßnahme sei aber noch eine
ausreichende Mitwirkungsbereitschaft des Leistungsempfängers prognostiziert worden, woran sich bis kurz vor dem Abbruch der
Maß-nahme auch nichts geändert habe. Erst ganz zum Ende hin sei aufgefallen, dass sich der Drogenkonsum des Leistungsempfängers
nicht in gelegentlichen Rückfällen erschöpft habe, sondern ein durchgängiger Missbrauch betrieben wurde. Was ein Mindestmaß
an Mitwirkungsbereitschaft für den davorliegenden Zeitraum betreffe, sei in Rechnung zu stellen, dass insbesondere in Fällen
mit Alkohol- oder sonstiger Drogenproblematik - gerade weil der Hilfesuchende aus eigener Kraft nicht ohne Weiteres in der
Lage sei, auf Drogen zu verzichten - dessen Fähigkeit zur Mitwirkung an Maßnahmen nach § 41 SGB VIII, die vornehmlich die Verselbständigung zum Ziel hätten, und - neben dem pädagogischen Angebot - in der Regel auch die Aufnahme
einer Erwerbstätigkeit, eines Praktikums oder einer Berufsausbildung in einem Maße beeinträchtigt seien, dass auf diese Hilfeziele
erst nach Abschluss anderer Maßnahmen hingearbeitet werden könne. Der Beginn einer Hilfemaßnahme könne daher zwar von der
grundsätzlichen Bereitschaft des Betroffenen zur Reduzierung des Drogenkonsums, nicht jedoch von einer strikten Drogenfreiheit
abhängig gemacht werden. Auch bei Rückfällen sei die Hilfemaßnahme nicht sogleich abzubrechen.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, ihm die für den Leistungsempfänger T. E. , geb. am 13.
Februar 1982, für die Zeit vom 13. Februar 2002 bis zum 7. August 2002 aufgewendeten Kosten in Höhe von 8.736,64 Euro nebst
gesetzlicher Zinsen zu erstatten.
Die Beklagte tritt der Berufung des Klägers entgegen. Sie vertritt die Ansicht, dass eine Jugendhilfemaßnahme nach §§ 41, 35 a SGB VIII von Anfang an keinen Erfolg versprochen hätte, weil der Leistungsempfänger - gemessen an seinem persönlichen Einsatz - nicht
das erforderliche Mindestmaß an Mitwirkungsbereitschaft habe erkennen lassen. Im vorliegenden Fall seien alle Anträge zur
Hilfeleistung nach dem SGB VIII über die WG B.----straße schriftlich gestellt worden; eine persönliche Vorsprache - in welcher Form auch immer - sei vom Hilfeempfänger
nicht gesucht worden. Bezeichnenderweise habe der Hilfeempfänger beim Sozialamt der Stadt B1. auch lediglich auf "teilstationäre"
Hilfe für Personen mit besonderen sozialen Schwierigkeiten vorgesprochen, also vordringlich die Überwindung der Obdachlosigkeit
erstrebt. Die Ablehnung mit Bescheid der Beklagten vom 23. April 2002 sei gerade deswegen erfolgt, weil die zwingend erforderliche
persönliche Mitarbeit nicht habe prognostiziert werden können. Der nicht wahrgenommene Termin zur Vorsprache stelle insoweit
nur ein Indiz dar, zumal der Leistungsempfänger der Beklagten schon über die Jugendgerichtshilfe bekannt gewesen sei.
Von einer offensichtlichen Unrichtigkeit des Ablehnungsbescheides vom 23. April 2002 könne nicht ausgegangen werden, weil
sich eine solche - ähnlich Schreib- oder Rechtsfehlern - aus dem Verwaltungsakt selbst und nicht erst durch Einsicht in die
Verwaltungsvorgänge ergeben, d.h. bereits beim ersten Blick und quasi beiläufig erkennbar sein müsse. Das treffe für die Nichteinhaltung
eines materiell-rechtlich vorgeschriebenen Verfahrens nicht zu, so dass sich der Beklagte entgegenhalten lassen müsse, wenn
er den ablehnenden Bescheid ohne Durchführung eines Klageverfahrens habe bestandskräftig werden lassen.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und
der beigezogenen Verwaltungsvorgänge (3 Hefte) Bezug genommen.
II.
Über die Berufung kann gemäß §
130 a VwGO durch Beschluss entschieden werden, da der Senat die Berufung einstimmig für begründet und die Durchführung einer mündlichen
Verhandlung nicht für erforderlich hält (§
130 a Satz 1
VwGO). Die Beteiligten sind hierzu nach §
130 a Satz 2
VwGO i.V.m. §
125 Abs.
2 Satz 3
VwGO angehört worden.
Die zugelassene Berufung ist begründet. Der Kläger hat bezogen auf den streitbefangenen Zeitraum vom 13. Februar 2002 bis
zum 7. August 2002 Anspruch gegen die Beklagte auf Erstattung der für den Leistungsempfänger T. E. im Rahmen seiner Unterbringung
in der WG-B.----straße aufgewendeten Kosten in Höhe von 8.736,64 Euro nebst Prozesszinsen.
Rechtsgrundlage für den Erstattungsanspruch ist § 104 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 SGB X. Danach kann ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger, der in einem Fall außerhalb des Anwendungsbereichs des § 103 Abs. 1 SGB X Sozialleistungen erbracht hat, von dem Leistungsträger Erstattung verlangen, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch
hat oder hatte, soweit der Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers
Kenntnis erlangt hat. Der Umfang des Erstattungsanspruchs richtet sich nach den für den vorrangig verpflichteten Leistungsträger
geltenden Rechtsvorschriften.
Der Erstattungsanspruch des § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X setzt mithin voraus, dass Leistungspflichten (mindestens) zweier Leistungsträger nebeneinander bestehen und miteinander konkurrieren,
wobei die Verpflichtung eines der Leistungsträger der Verpflichtung des anderen nachgehen muss. Dies ist hier der Fall. Dem
Hilfeempfänger standen in dem streitgegenständlichen Zeitraum sowohl Leistungen nach § 72 BSHG als einer Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten zu, als auch Hilfe für junge Volljährige in Gestalt von
Leistungen der Eingliederungshilfe nach § 41 i.V.m. § 35 a SGB VIII.
Dass die Lebensverhältnisse von T. E. aufgrund seiner Haftentlassung mit sozialen Schwierigkeiten verbunden gewesen sind,
die er nicht aus eigener Kraft überwinden konnte, so dass ihm nach § 72 Abs. 1 Satz 1 BSGH Hilfe zur Überwindung dieser Schwierigkeiten
zu gewähren war,
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vgl. zum Fall eines Haftentlassenen etwa: OVG Lüneburg, Urteil vom 2. Dezember 2003 - 4 LB 159/03 -, FEVS 55, 226,
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liegt auf der Hand und steht zwischen den Beteiligten auch nicht im Streit. Ebenso wenig begegnet es nach Auswertung der dem
Senat vorliegenden Unterlagen ernstlichen Bedenken, dass der seinerzeit 20 Jahre alte Hilfeempfänger in seiner damaligen Situation
Hilfe für die Persönlichkeitsentwicklung und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung i.S.v. § 41 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII benötigt hat.
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Vgl. zum gleichzeitigen Vorliegen auch der Voraussetzungen des § 41 SGB VIII: OVG Lüneburg, Urteil vom 2. Dezember 2003 - 4 LB 159/03 -, a.a.O.; VG München, Urteil vom 14. September 2005 - M 18 K 05.2453 -, [...].
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In dem an das Jugendamt I. gerichteten und vom Hilfeempfänger eigenhändig unterschriebenen Antragsschreiben vom 13. Februar
2002 gibt er selbst an, die Hilfe zu brauchen, "um eigenständig zu werden", zumal er lange Zeit auf der Straße gelebt habe
und sich ein eigenständiges Wohnen noch nicht zutraue. Dass bei T. E. Hilfe für die Persönlichkeitsentwicklung hin zu einer
möglichst eigenverantwortlichen Lebensführung in Frage stand, bestätigt sich zudem im Bericht der WG-B.----straße aus Mai 2002, demzufolge sich schon beim Erstgespräch in der JVA insoweit ein Hilfebedarf klar ersichtlich ergab,
als es der Wunsch von Herrn E. war, "seine begonnene Ausbildung zum Fleischer zu beenden, drogenfrei und straffrei zu leben,
um zukünftig unabhängig von Hilfe und eigenverantwortlich leben zu können". Brüchige, gestörte Lebenswege (etwa bei Strafentlassenen)
schaffen oft Situationen, in denen die Persönlichkeitsentwicklung nach Vollendung der Volljährigkeit hinter einer durchschnittlich
altersgemäßen zurückgeblieben ist.
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Vgl. Tammen, in: FK-SGB VIII, 6. Auflage 2009, § 41 Rnr. 6; Diedrichs-Michel, in: GK-SGB VIII, Stand Dezember 2010, § 41 Rnr. 6 m.w.N.
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Die Hilfe nach § 41 SGB VIII stellte sich bei Antragstellung auch als notwendig dar. Es entspricht gefestigter Rechtsprechung, dass § 41 SGB VIII nicht voraussetzt, dass Aussicht besteht, der junge Volljährige werde bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres seine Verselbständigung
erreichen. Vielmehr genügt es, wenn die Hilfe eine erkennbare Verbesserung der Persönlichkeitsentwicklung und der Fähigkeit
zur eigenverantwortlichen Lebensführung erwarten lässt.
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Vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 23. September 1999
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- 5 C 26.96 -, BVerwGE 109, 325; OVG NRW, Beschluss vom 18. August 2009 - 12 E 627/09 -; Beschluss vom 14. November 2007 - 12 A 2742/07 -, jew. m. w. N.
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Von einem solchen unverzichtbaren Entwicklungspotenzial ist die betreuende Einrichtung mit ihren Fachleuten anfänglich erkennbar
ausgegangen. Soweit die WG-B.----straße mit ihrem Verdacht auf eine schwere psychische Störung erstmals in ihrem Bericht aus Mai 2002 dem Sinne nach
Zweifel an einer Förderbarkeit des jungen Mannes mit Hilfe von Maßnahmen des Jugendhilferechts äußert und diese Zweifel im
Bericht an den Kläger von Anfang August 2002 nochmals bestätigt, ist die Notwendigkeit der Hilfe nach § 41 SGB VIII - obwohl eine Umsetzung der Betreuungsziele kaum möglich gewesen sein soll - erst durch die ins Auge gefasste psychiatrisch-medizinische
Abklärung des Beschwerdebildes von T. E. determiniert gewesen. Die Überleitung von einer jugendtherapeutischen Betreuung zu
einer angemessenen medizinischen Versorgung, wie sie als Zielsetzung aus dem Abschlussbericht der WG-B.----straße vom 13. August 2002 hervorgeht, hat noch unter dem Regime des § 41 SGB VIII stattzufinden. Eine an sich nicht mehr geeignete Betreuung eines jungen Volljährigen ist für eine Übergangszeit fortzusetzen,
in der nach einer anderen geeigneten Maßnahme gesucht wird, wenn weiterhin ein Betreuungsbedarf besteht.
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Vgl. Tammen, in: FK-SGB VIII, a.a.O. mit Hinweis auf OVG Lüneburg, Urteil vom 25. Februar 1998
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- 4 L 5734/96 -, FEVS 49, 73.
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Dass sich die dem Hilfeempfänger in der WG-B.----straße bis zu seinem freiwilligen Verlassen am 7. August 2002 zu Teil gewordene Betreuung unter in Frage kommende Eingliederungsmaßnahmen
nach § 41 Abs. 2 i.V.m. § 35 a SGB VIII subsumieren lässt, wird im Ansatz von keinem der Beteiligten in Frage gestellt. Nach § 35 a Abs. 2 Nr. 1 und 4 SGB VIII wird Eingliederungshilfe je nach Bedarf in ambulanter Form oder in Einrichtungen über Tag und Nacht sowie sonstigen Wohnformen
geleistet.
Nach § 35 a Abs. 1 Satz 1 besteht Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn die seelische Gesundheit des Betreffenden mit hoher
Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für sein Lebensalter typischen Zustand abweicht, und daher seine Teilhabe
am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist. Dies steht hier außer Zweifel.
Zu den psychischen Störungen, die die seelische Gesundheit eines jungen Menschen beeinträchtigen und - wie hier offensichtlich
und unbestritten - seine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigen können, zählen namentlich auch psychische und
Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen (ICD 10 F 10 - F 19).
Entgegen der Annahme der Beklagten stand der Eignung von Hilfe nach § 41 SGB VIII nicht das Fehlen jeglicher Mitwirkungsbereitschaft des jungen Mannes entgegen. Dabei darf die Mitwirkung des Hilfeempfängers
an den therapeutischen Maßnahmen nicht mit der Mitwirkung verwechselt werden, die das Ziel von Maßnahmen der Integrationshilfe
darstellt, nämlich die aktive Eingliederung in gesellschaftlicher Abläufe. Die Motivation zur Mitwirkungsbereitschaft hinsichtlich
letztgenannter Maßnahmen ist gerade eine Aufgabe der Jugendhilfe.
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Vgl. zu dieser Verwechselungsgefahr: Busch/Diedrichs-Michel, in: GK-SGB VIII, a.a.O., § 41 Rnr. 17, Tammen, in: FK-SGB VIII, a.a.O., § 41 Rnr. 7 m. w. N.
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Im Übrigen muss in Rechnung gestellt werden, dass die fehlende Bereitschaft, sich einzubringen, gerade Symptom der seelischen
Erkrankung sein kann, das es dann mit den therapeutischen Mitteln als erstes zu überwinden gilt.
Vor diesem Hintergrund können hier keine negativen Schlüsse daraus gezogen werden, dass der Hilfeempfänger seine Anträge offenbar
jeweils unter Mithilfe der Einrichtung gestellt hat. Eine solche Vorgehensweise ist üblich und auch im vorliegenden Fall bereits
durch das Behinderungsbild des jungen Mannes bedingt.
Ebenso wenig lassen sich nachteilige Schlussfolgerungen daraus ziehen, dass der Hilfeempfänger nach dem Ablehnungsbescheid
der Beklagten vom 23. April 2002 einer Vorladung zur Prüfung seines Antrags auf Hilfe nach § 41 SGB VIII für den 11. April 2002 nicht nachgekommen sein soll. Der Vorhaltung im Zulassungsbeschluss des Senats vom 11. Mai 2010, dass
sich aus den dem Senat vorliegenden Unterlagen schon eine angebliche Vorladung für den 11. April 2002 nicht ersehen lässt,
hat die Beklagte im Berufungsverfahren nichts Substantiiertes entgegenzusetzen vermocht. Aus einer Niederschrift vom 21. März
2002, die sich in den von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsvorgängen befindet, ergibt sich, dass T. E. nur drei Wochen
vor dem angeblich versäumten Termin noch zu einer Anhörung bei der Abteilung der Beklagten für wirtschaftliche Jugendhilfe
erschienen ist und dort offenbar bereitwillig zu seinen Aufenthaltsverhältnissen in der zurückliegenden Zeit Auskunft gegeben
hat. Der von der Stadt I. weitergeleitete Antrag auf Jugendhilfe nach § 41 SGB VIII lag bei der Beklagten ausweislich des Eingangsvermerkes auf dem Übersendungsschreiben der Stadt I. seit dem 18. März 2002
vor, wurde aber erkennbar nur zum Anlass genommen, die - eine örtliche Zuständigkeit der Beklagten begründenden - Umstände
bei der Anhörung des Hilfesuchenden zu überprüfen. Eine sachgerechte - der Leitnorm des § 1 Abs. 3 Nr. 1 SGB VIII gerecht werdende - Auseinandersetzung der Beklagten mit dem materiellen Anliegen des jungen Mannes ist den von der Beklagten
vorgelegten Unterlagen für den Zeitraum bis zum Ablehnungsbescheid vom 23. April 2002 nicht einmal ansatzweise zu entnehmen.
Selbst wenn der Hilfesuchende tatsächlich eine Vorladung beim Jugendamt der Beklagten zum 11. April 2002 erhalten, aber diesen
Termin nicht wahrgenommen haben sollte, wäre es vor diesem Hintergrund und der im Berufungsverfahren eingeräumten Kenntnis
der Beklagten um die Person T. E. - also auch um seine schwierige Persönlichkeitsstruktur - nicht ohne weiteres vertretbar,
aus einem einmaligen Nichterscheinen - noch dazu ohne Rückversicherung, ob nicht ein entschuldigender Grund vorlag, und ohne
erkennbaren weiteren Versuch der Kontaktaufnahme mit dem Leistungsempfänger oder wenigstens der betreuenden Einrichtung -
auf die grundsätzliche und nicht nur behinderungsbedingt situative Verweigerung der "zwingend erforderlichen Mitarbeit i.S.d.
§ 41 KJHG" zu schließen. Für eine solche Annahme reicht die vom Jugendamt der Beklagten angelegte Dokumentation zum Hilfefall T. E.
auch im Übrigen nicht annähernd aus. Auch anhand der weiteren Entwicklung des Hilfefalles hat nicht der fehlende Wille des
jungen Volljährigen, sich bei der Hilfeaktion einzubringen, Bestätigung gefunden, sondern lässt sich lediglich schlussfolgern,
dass seine seelisch-psychische Behinderung damals so massiv gewesen ist, dass sie ihm eine eigeninitiative Mitarbeit kaum
möglich machte.
Soweit das Sozialrecht mit §
66 Abs.
1 Satz 1
SGB I eine formell-rechtliche Möglichkeit bietet, Rechtsfolgen aus einer fehlenden Mitwirkung abzuleiten, hat die Beklagte - wie
der Senat bereits im Zulassungsbeschluss vom 11. Mai 2010 im Einzelnen dargelegt hat und nunmehr in Bezug nimmt - diesen Weg
nicht beschritten.
Waren danach die Voraussetzungen sowohl für Hilfe nach § 72 BSHG als auch für die Hilfe nach § 41 i.V.m. § 35 a SGB VIII gegeben, sind die Leistungen der Jugendhilfe gegenüber den Leistungen der Sozialhilfe auch vorrangig. Das ergibt sich sowohl
aus § 72 Abs. 1 Satz 2 BSHG,
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vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 25. August 1998 - 5 B 58.98 -, FEVS 49, 99,
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als auch aus § 10 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII a.F. Von einer körperlichen oder geistigen Behinderung, bei der nach § 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII a.F. Leistungen nach dem BSHG denen nach dem SGB VIII vorgehen würden, ist hier nicht auszugehen. § 10 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII setzt als notwendig lediglich voraus, dass sowohl ein Anspruch auf Jugendhilfe, als auch ein Anspruch auf Sozialhilfe besteht
und beide Leistungen gleich, gleichartig, einander entsprechend, kongruent, einander überschneidend oder deckungsgleich sind.
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Vgl. BVerwG, Urteil vom 23. September 1999 - 5 C 26.98 -, FEVS 51, 337; Urteil vom 2. März 2006 - 5 C 15.05 -, BVerwGE 125, 95.
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Dass hier Gegenteiliges der Fall ist, wird auch von der Beklagten nicht behauptet und lässt sich auch sonst den vorliegenden
Unterlagen nicht entnehmen.
Schließlich steht dem Anspruch des Klägers auf Erstattung auch in Anwendung der Rechtsprechung des Senats,
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vgl. Urteil vom 22. März 2006 - 12 A 2094/05 -, NDV-RD 2006, 57,
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nicht entgegen, dass der Kläger gegen den bei ihm am 3. Mai 2002 eingesandte Ablehnungsbescheid der Beklagten vom 22. April
2002 nicht nach § 86 SGB X i.V.m. § 91 a BSHG Widerspruch eingelegt, sondern ihn bestandskräftig hat werden lassen. Bereits im Zulassungsbeschluss vom 11. Mai 2010 hat
der Senat verdeutlicht, dass der Erstattungsschuldner dem Erstattungsgläubiger im Erstattungsstreit dann Einwendungen aus
dem Leistungsverhältnis, wie die bestandskräftige Ablehnung der Hilfeleistung, nicht entgegenhalten kann, wenn der betreffende
Leistungsbescheid offensichtlich unrichtig ist.
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Vgl. OVG NRW, Urteil vom 22. März 2006 - 12 A 2094/05 -, a.a.O., mit Hinweis auf BSG, Urteil vom 13. September 1984 - 4 RJ 37/83 - BSGE 57, 46; Urteil vom 25. Januar 1994 - 7 Rar 42/93 -, BSGE 74, 36 und Urteil vom 1. September 1999 - B 13 RJ 49/96 R -, SozR 3/1300 § 86 Nr. 3 m.w.N.
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Offensichtlich bzw. offenbar ist eine Unrichtigkeit, wenn sie für den verständigen objektiven Betrachter unschwer ersichtlich
ist, und zwar aus erkennbaren Vorgängen beim Erlass des Verwaltungsaktes, aus ihm selbst oder aus sonstigen Umständen.
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Vgl. BSG, Urteil vom 31. Mai 1990 - 8 RKn 22/88 -, BSGE 67, 70; Bay. Landessozialgericht, Urteil vom 18. Januar 2011 - L 8 SO 7/08 -, [...], m.w.N.; Engelmann in: von Wulffen SGB X, 7. Auflage 2010, § 38 Rnr. 6 m.w.N.
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Der Fehler muss quasi "ins Auge springen", wobei es nicht genügt, wenn er sich lediglich aus den Verwaltungsvorgängen ergibt.
Andererseits ist nicht erforderlich, dass sich der Fehler allein schon beim Lesen des Bescheids aufdrängt.
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Vgl. Engelmann, in: von Wulffen, SGB X a.a.O. m.w.N.
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Dabei ist nicht von der in § 38 SGB X vorausgesetzten Abweichung der Verlautbarung vom inneren Willen der Behörde auszugehen, sondern zu prüfen, ob die getroffene
Entscheidung objektiv unter Berücksichtigung der verfügbaren Entscheidungsgrundlage dem materiellen Recht deutlich widerspricht.
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Vgl. BSG, Urteil vom 17. Juni 1993 - 13/5 RJ
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13/90 -, BSGE 72, 281, [...].
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Diesen Erfordernissen genügt die fehlerhafte Würdigung des Nichterscheinens des Herrn T. E. zu einem angeblich auf den 11.
April 2002 anberaumten Termin als Zeichen dafür, dass bei ihm die zwingend erforderliche persönliche Mitarbeit im Sinne des
§ 41 SGB VIII nicht gegeben sei. Dass die Voraussetzungen, unter denen nach §
66 i.V.m. §
61 SGB I Leistungen mangels Mitwirkung versagt werden können nicht vorliegen, ergibt sich nämlich schon aus dem Ablehnungsbescheid
selbst, in dem keiner der erforderlichen förmlichen Schritte Erwähnung findet. Aber auch die Feststellung, dass aufgrund des
Nichterscheinens zum anberaumten Termin bei T. E. "die zwingend erforderliche persönliche Mitarbeit i.S.d. § 41 KJHG... nicht gegeben ist", drängt sich aus dem Bescheid heraus vor dem diesem immanenten Hintergrund, dass es sich bei dem Antragsteller
um einen entwicklungsretardierten, psychisch auffälligen 20 Jährigen Haftentlassenen handelt und nur von einer einmaligen
Terminsversäumung die Rede ist, deren Gründen das Jugendamt der Beklagten ersichtlich nicht weiter nachgegangen ist, als schlichte
Unterstellung ohne jede belastbare Grundlage auf.
Nach alledem steht dem Kläger für den streitgegenständlichen Zeitraum ein Anspruch auf Erstattung des nach Maßgabe des Jugendhilferechts
gerechtfertigten Kostenaufwands zu. Dass dieser der Höhe nach mit 8.736,64 Euro unzutreffend beziffert worden wäre, hat die
Beklagte nicht behauptet und ist auch sonst nicht ersichtlich. Der Anspruch auf die geltend gemachten Zinsen ab Rechtshängigkeit
beruht auf der entsprechenden Anwendung der §§
291,
188 BGB. Diese Vorschriften gelten vorbehaltlich spezieller Regelungen in den Fachgesetzen auch für öffentlich-rechtliche Geldschulden.
|
Vgl. BVerwG, Beschluss vom 21. Januar 2010 - 9 B 66/08 -, DVBl. 2010, 575, [...].
|
Die Kostenentscheidung folgt aus §
154 Abs.
1,
188 Satz 2 Halbsatz 1
VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §
167 VwGO i.V.m. §§
708 Nr. 10,
711 ZPO.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des §
132 Abs.
2 VwGO nicht gegeben sind.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 43 Abs. 1, 47, 52 Abs. 1 und 3 GKG.