Bezug von Rente wegen voller Erwerbsminderung durch Versicherten mit unbekanntem Wohnsitz und Aufenthaltsort
Klage des Versicherten auf Verpflichtung der Rentenversicherung zur Übersendung von Bescheiden und sonstiger Korrespondenz
auf elektronischem Weg
Prüfung der örtlichen Zuständigkeit des erstinstanzlichen Gerichts und Verweisung der Verfahren an das zuständige Sozialgericht
Anordnung der öffentlichen Zustellung
Gründe
I.
Der Antragsteller begehrt im Wesentlichen, die Verpflichtung der Antragsgegnerin mit ihm auf elektronischem Wege zu korrespondieren.
Der 1965 geborene Antragsteller bezieht von der Antragsgegnerin seit 2010 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer
(Bescheid v. 2.10.2012). Er war zuletzt in C gemeldet und ist jedenfalls seit dem Jahr 2013 ohne festen Wohnsitz. Eine Anfrage
der Antragsgegnerin beim Einwohnermeldeamt der Stadt C ergab, dass dieser zum 29.7.2013 "nach unbekannt abgemeldet" sei.
Der Antragsteller begann daraufhin unter Angabe wechselnder Email-Adressen mit der Antragsgegnerin zu korrespondieren. Diese
bat wiederholt auf dem Postweg zu kommunizieren. Mit Email vom 5.12.2013 verwies der Antragsteller darauf, dass die Antragsgegnerin
auch über das Elektronische Gerichts- und Verwaltungsfach (EGVP) an ihn zustellen könne.
Am 21.1.2014 hat der Antragsteller über EGVP bei dem Sozialgericht (SG) Münster einen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gestellt. Eine Nachprüfung des Zertifikats des Antragstellers
war nur eingeschränkt möglich. Ein qualifiziertes Zertifikat bestand nicht. Er sei nicht verpflichtet, der Antragsgegnerin
eine Postzustelladresse anzugeben. Sie müsse auf elektronischem Wege mit ihm kommunizieren.
Der Antragsteller hat schriftsätzlich sinngemäß beantragt,
1.
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, den Briefverkehr mit ihm und sämtlichen Personen
ohne festen Wohnsitz auf Verlangen über EGVP, notfalls per E-Mail zu führen,
2.
festzustellen, dass Personen ohne festen Wohnsitz einen Anspruch auf Rechtsverkehr haben,
3.
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, sämtliche Einspruchs- und Widerspruchsfristen für
Personen ohne festen Wohnsitz auf eine Zeitdauer von 18 Monaten zu verlängern,
4.
ihm Prozesskostenhilfe für den Antrag zu gewähren,
5.
im Wege der einstweiligen Anordnung die Antragsgegnerin zu verpflichten, ihm bezüglich des bisher nicht zugestellten Briefverkehres
Widereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
Die Antragsgegnerin hat schriftsätzlich beantragt,
die Anträge abzulehnen.
Ein Anspruch auf Übersendung von Bescheiden und ähnlichem auf elektronischem Weg bestehe nicht.
Das SG hat mit Beschluss vom 10.3.2014 den Antrag als unzulässig abgewiesen. Auf die Gründe wird Bezug genommen.
Gegen den öffentlich zugestellten Beschluss hat der Antragsteller am 24.3.2014 über EGVP Beschwerde eingelegt. Das SG habe die Bedeutung des §
57 SGG verkannt. Es bestehe eine Rechtsweggarantie, die auf diese Weise wohnsitzlosen Personen verwehrt werde.
Der Antragsteller beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
die Beschlüsse des SG Münster vom 10.3.2014 abzuändern und gemäß den erstinstanzlichen Anträgen zu entscheiden sowie ihm Prozesskostenhilfe
im erstinstanzlichen Verfahren zu gewähren.
Die Antragsgegnerin beantragt,
die Beschwerden zurückzuweisen.
Sie nimmt auf ihre erstinstanzlichen Ausführungen Bezug.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des übrigen Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte
sowie der beigezogenen Verwaltungsakte Bezug genommen.
II.
Die Beschwerden haben im tenorierten Umfang Erfolg.
1. Das erstinstanzliche Gericht war jeweils aufgrund örtlicher Unzuständigkeit nicht zu einer Entscheidung berufen. Nach §
57 Abs.
1 Satz 1
Sozialgerichtsgesetz (
SGG) ist örtlich das SG zuständig, in dessen Bezirk der Kläger oder Antragsteller zur Zeit der Klage bzw. Antragserhebung seinen Sitz oder Wohnsitz
oder in Ermangelung dessen seinen Aufenthaltsort hat; steht er in einem Beschäftigungsverhältnis, so kann er auch vor dem
für den Beschäftigungsort zuständigen SG klagen. Sind jedoch der im Zeitpunkt der Verfahrenserhebung bestehende Beschäftigungsort, Wohnsitz und Aufenthaltsort des
Antragstellers unbekannt, bestimmt sich nach §
202 Satz 1
SGG i.V.m. §
16 Zivilprozessordnung (
ZPO) die örtliche Zuständigkeit nach seinem letzten Wohnsitz (Bundessozialgericht (BSG), Beschluss v. 2.4.2009, B 12 SF 8/08 S; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 11. Auflage, §
57 Rdnr. 7c). Seinen letzten Wohnsitz hatte der Antragsteller laut Auskunft des Einwohnermeldeamtes bis Juli 2013 in C gemeldet.
Zuständig ist danach das SG Detmold gewesen.
Zwar prüft nach §
98 SGG i.V.m. §
17a Abs.
5 Gerichtsverfassungsgesetz (
GVG) das Gericht, das über ein Rechtsmittel gegen eine Entscheidung in der Hauptsache entscheidet, grundsätzlich nicht, ob der
bestrittene Rechtsweg zulässig ist. Das findet im sozialgerichtlichen Verfahren auch für die Prüfung der örtlichen Zuständigkeit
des Gerichts Anwendung (Leitherer in: a.a.O. §
98 Rdnr. 2). Allerdings greift das Verbot des §
98 Satz 1
SGG i.V.m. §
17a Abs.
5 GVG dann ausnahmsweise nicht ein, wenn durch das erstinstanzlich angerufene Gericht keine Entscheidung in der Hauptsache im Sinne
dieser Norm getroffen worden ist. Als Entscheidung in der Hauptsache gilt danach nicht nur eine Entscheidung in der Sache
selbst, also über die Begründetheit der Klage bzw. des Antrages sondern auch eine Entscheidung über die Unzulässigkeit des
Verfahrens, sofern sie auf andere Gründe als auf die Unzulässigkeit des Verfahrens wegen gerichtlicher Unzuständigkeit gestützt
wird (BSG, Urteil v. 20.5.2003, B 1 KR 7/03 R, NZS 2004, 447; Wittschier in: Musielak/Voit,
Zivilprozessordnung [ZPO], 12. Auflage, §
17a GVG Rdnr. 20; Ehlers in: Schoch/Schneider/Bier,
Verwaltungsgerichtsordnung, 28. Ergänzungslieferung, §
17a GVG Rdnr. 45). §
98 Satz 1
SGG i.V.m. §
17a Abs.
5 GVG findet daher keine Anwendung, wenn das Gericht erster Instanz den Rechtsstreit als wegen Unzuständigkeit unzulässig abgewiesen
hat, statt den Rechtsstreit gemäß §
98 Satz 1
SGG i.V.m. §
17a Abs.
2 GVG zu verweisen (Wittschier in a.a.O., §
17a GVG Rdnr. 21; BSG, Urteil v. 20.5.2003, a.a.O.; BSG, Urteil v. 16.6.1999, B 9 V 24/98 R, NVwZ-RR 2000, 648; Hintz in:
Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, Beck'scher-Kommentar, Stand 1.6.2015, §
98 SGG Rdnr. 4; Bayerisches Landessozialgericht [LSG], Urteil v. 27.1.2010, L 13 R 696/09, [...]). Nach dem Zweck des §
17a Abs.
5 GVG soll sich das Rechtsmittelgericht nämlich nur dann mit der Frage der Zuständigkeit befassen, wenn auch die Entscheidung der
Vorinstanz ausschließlich darauf beruht. Hat die erste Instanz diese Frage dem gegenüber auch nur sinngemäß bejaht, soll der
Rechtsstreit von der Rechtswegfrage in einer höheren Instanz entlastet bleiben. In Folge dessen trifft die Vorinstanz dann
keine Entscheidung in der Hauptsache im Sinne dieser Bestimmung, wenn sie die Unzulässigkeit des Verfahrens mit der fehlenden
Zuständigkeit begründet (so zur Frage der Rechtswegzuständigkeit: BSG, Urteil v. 20.5.2003 a.a.O.; Bayerisches LSG, Urteil v. 27.1.2010 a.a.O.).
Dieser Fall liegt jedoch vor. Das erstinstanzlich durch den Antragsteller angerufene SG hat die Anträge des Antragstellers als unzulässig abgewiesen, da die örtliche Zuständigkeit des SG Münster nicht zu bejahen
sei. Vor diesem Hintergrund war die Prüfungskompetenz des Senats eröffnet und die Beschlüsse unter ihrer Aufhebung an das
zuständige Sozialgericht zu verweisen.
Dabei gelten die oben genannten Grundsätze auch für das ebenfalls erstinstanzlich angestrengte Prozesskostenhilfeverfahren.
Ohne eine entsprechende Bindung dieses Verfahrens an die gleichfalls anhängige Hauptsache bestünde die abstrakte Gefahr eines
unzulässigen Auseinanderfallens von Hauptsache- und Prozesskostenhilfeverfahren (so im Grundsatz auch Hessisches LSG, Beschluss
v. 16.1.2014, L 5 R 202/13 B, [...]).
2. Das zuständige SG wird auch über die Erstattung der bisher im Verfahren entstandenen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers zu entscheiden
haben (§
202 SGG, §
17b Abs.
2 GVG).
3. Die öffentliche Zustellung gegenüber dem Antragsteller war anzuordnen. Gemäß §§
153,
63 Abs.
1 Satz 1
SGG sind Anordnungen und Entscheidungen, durch die eine Frist in Lauf gesetzt wird, den Beteiligten zuzustellen; bei Verkündung
jedoch nur, wenn es ausdrücklich vorgeschrieben ist. Nach §
63 Abs.
2 SGG wird von Amts wegen nach den Vorschriften der
ZPO zugestellt. Nach §
185 Nr. 1
ZPO kann die Zustellung durch öffentliche Bekanntmachung erfolgen, wenn der Aufenthaltsort einer Person unbekannt und eine Zustellung
an einen Vertreter oder Zustellungsbevollmächtigten nicht möglich ist. Nach §
186 ZPO entscheidet darüber das Prozessgericht.
Diese Voraussetzungen liegen vor. Mit vorliegendem Beschluss wird eine Entscheidung über die Beschwerden des Antragstellers
getroffen. Dieser ist ferner nicht mehr erreichbar. Eine Zustellung an einen Vertreter oder Zustellungsbevollmächtigten ist
nicht mehr möglich. Gründe, von der öffentlichen Zustellung abzusehen, sind nicht ersichtlich.
Der Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht (BSG) anfechtbar, §§
177,
98 Satz 2
SGG.