Kindergeldrechtliche Berücksichtigung des behinderungsbedingten Mehrbedarfs, einer Erwerbsunfähigkeitsrente sowie von Eingliederungshilfe
eines volljährigen behinderten Kindes
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Kindergeldberechtigung hinsichtlich des Sohnes des Klägers.
Der am ... geborene Sohn ... des Klägers ist schwerstbehindert. Aus einem ab 28. Juni 1993 gültigen Schwerbehindertenausweis
ergibt sich, dass der Sohn des Klägers ständiger Begleitung bedarf und dass der Grad der Behinderung 100 beträgt. Im Schwerbehindertenausweis
sind darüber hinaus die Merkzeichen G, H und RF eingetragen.
Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass der Grad der Behinderung bis zum 31. Dezember 1992 lediglich 50 betragen hat
und dass der Sohn des Klägers ab 01. September 1977 bei der ... GmbH als Hilfsarbeiter beschäftigt gewesen ist.
Hinsichtlich der Krankengeschichte des Sohnes des Klägers wird auf das mit Schriftsatz des Klägers vom 27. August 1999 vorgelegte
nervenfachärztliche Gutachten von Dr. med. ... vom 28. Mai 1993 Bezug genommen.
Auf Grund der Kündigung des seinerzeitigen Beschäftigungsverhältnisses mit den... GmbH ist der Sohn des Klägers in der Werkstatt
für Behinderte .... teilstationär untergebracht und wird dort beschäftigt. Insoweit erhält er Eingliederungshilfe nach den
Vorschriften des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG). Der Tagessatz der Eingliederungshilfe beträgt derzeit 62,79 DM, und betrug 1999 62,04 DM.
Der Sohn des Klägers bezieht Erwerbsunfähigkeitsrente vom Rentenversicherungsträger sowie Arbeitsentgelt aus der Beschäftigung
in der Behindertenwerkstatt.
Die Erwerbsunfähigkeitsrente wird seit 01. Juli 1997 bezogen und betrug bis Juni 1998 insgesamt 1.248,55 DM monatlich. Danach
betrug sie monatlich insgesamt 1.259,65 DM.
Der Arbeitslohn aus der Beschäftigung im ... betrug ab 01. Juli 1997 monatlich 140 DM.
... lebt im Haushalt des Klägers. Dieser wurde durch Beschluss des Amtsgerichts ... zum Betreuer seines Sohnes bestellt.
Am 06. Oktober 1998 beantragte der Kläger beim Beklagten Kindergeld. Diesen Antrag lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 16.
November 1998 ab, da die maßgeblichen Einkommensgrenzen überschritten seien. Das Einspruchsverfahren ist erfolglos durchgeführt
worden.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid vom 16. November 1998 in Gestalt des Einspruchsbescheides vom 09. März 1999 aufzuheben und ab 01. Juli 1997 Kindergeld
festzusetzen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er vertritt die Ansicht, dass durch die Gewährung der Eingliederungshilfe für den Sohn des Klägers der behinderungsbedingte
Mehrbedarf abgedeckt werde. Der Pauschbetrag für behinderungsbedingten Mehraufwand gemäss §
33 b Abs.
3
EStG werde durch diese Leistungen verbraucht, so dass eine darüber hinausgehende Berücksichtigung des Pauschbetrages nicht in
Betracht komme. Zudem verweist der Beklagte darauf, dass die Behinderung des Kindes und die Unfähigkeit, sich selbst zu unterhalten,
bereits vor Vollendung des 27. Lebensjahres vorgelegen haben müssten.
Der Berichterstatter hat mit den Beteiligten einen Termin zur Erörterung der Sach- und Rechtslage abgehalten. Auf das Terminsprotokoll
vom 25. November 1999 wird ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Entscheidung konnte ohne mündliche Verhandlung durch den Berichterstatter ergehen, denn die Beteiligten haben sich hiermit
einverstanden erklärt (§§ 79 a Abs. 3, 4; 90 Abs. 2
FGO).
Die Klage ist zulässig und begründet.
Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 100 Abs. 1 S. 1 FGO). Das Kindergeld war in gesetzlicher Höhe festzusetzen (§ 100 Abs. 2 S. 1 FGO).
Der Sohn des Klägers ist als Kind im Sinne von §
62 Abs.
1 S. 2 i.V.m. §
32 Abs.
4 Nr.
3
EStG zu berücksichtigen, denn er ist wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außer Stande, sich selbst zu unterhalten.
Die Behinderung des Kindes ergibt sich ohne Weiteres daraus, dass das zuständige Amt für Versorgung und Soziales einen Schwerbehindertenausweis
ausgestellt hat, durch welchen ein Grad der Behinderung von 100 festgestellt worden ist. Dies ist zwischen den Beteiligten
auch unstreitig.
Der Annahme, dass der Sohn des Klägers außer Stande ist, sich selbst zu unterhalten, steht nicht entgegen, dass er in den
Jahren 1997 und 1998 Erwerbsunfähigkeitsrente, Arbeitslohn und Eingliederungshilfe bezogen hat.
Die Einkünfte und Bezüge des Kindes 1997 errechnen sich wie folgt:
1.248,55 DM Erwerbsunfähigkeitsrente x 6
= 7.491,30 DM
abzüglich Werbungskosten/Pauschbetrag nach §
9 a S. 1 Nr. 1 Bst. c
EStG
- 200,00 DM
abzüglich Kostenpauschale
- 360,00 DM
Summe
6.931,30 DM
Die Einkünfte und Bezüge des Kindes 1998 errechnen sich wie folgt:
Erwerbsunfähigkeitsrente 1.248,55 DM x 6
= 7.491,30 DM
Erwerbsunfähigkeitsrente 1.259,65 DM x 6
= 7.557,90 DM
abzüglich Werbungskosten/Pauschbetrag
- 200,00 DM
abzüglich Kostenpauschale
- 360,00 DM
Summe
14.489,20 DM
Der Arbeitslohn aus der Beschäftigung im ... kommt deshalb nicht zum Ansatz, weil er unterhalb des Werbungskostenpauschbetrages
nach §
9 a S. 1 Nr. 1 Bst. a
EStG lag.
Nach neuester Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes (BFH), welcher der Berichterstatter folgt, hat ein Schwerbehinderter mit
einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 100 v.H., der darüber hinaus hilflos ist, einen Grundbedarf in Höhe von 12.000 DM
sowie einen behinderungsbedingten Mehrbedarf (BFH-Urteil vom 15. Oktober 1999. VI R 183/97, DStR 2000, 83 = DStZ 2000, 222). Wenn der behinderungsbedingte Mehrbedarf - wie vorliegend - vom Kindergeldberechtigten nicht belegt werden kann, so ist
auf den Pauschbetrag in Höhe von 7.200 DM nach §
33 b Abs.
3 S. 3
EStG zurückzugreifen. Dies entspricht auch der Verwaltungsauffassung; vgl. R 180 d Abs. 4 S. 2 EStR 1998).
Entgegen der Ansicht des Beklagten steht dem nicht entgegen, dass der Sohn des Klägers im Form von Sachleistungen Eingliederungshilfe
nach dem BSHG erhält. Der Pauschbetrag für behinderungsbedingten Mehrbedarf nach §
33 b Abs.
3
EStG wird dadurch nicht verbraucht. Diese Sichtweise verkennt nämlich, dass der Sohn des Klägers lediglich während der üblichen
Arbeitszeit im ... untergebracht ist, dort beschäftigt ist und verpflegt und betreut wird. Nach Feierabend sowie an den Wochenenden
bedarf der Sohn des Klägers aber ebenfalls ständiger Betreuung. Auch insoweit entsteht für ihn selbst und für eine Betreuungsperson
ein Mehrbedarf, der nicht durch die Eingliederungshilfe gedeckt ist. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat im Erörterungstermin
deutlich gemacht, dass der Sohn des Klägers während der Zeit, in der er nicht im ... arbeitet und untergebracht ist, ständig
- also praktisch rund um die Uhr - vom Kläger betreut werden muss und betreut wird. Es liegt auf der Hand, dass insoweit eine
Bedarfslücke besteht, die nicht dadurch geschlossen wird, dass der Sohn des Klägers für die teilstationäre Unterbringung im
... Eingliederungshilfe als Leistung der öffentlichen Hand (vgl. §§ 39 ff. BSHG) erhält.
Die Kindergeldberechtigung hängt auch nicht davon ab, ob die Behinderung und die Unfähigkeit des Kindes, sich selbst zu unterhalten,
schon vor der Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten ist. Abgesehen davon, dass angesichts des in Kopie in den finanzgerichtlichen
Verfahrensakten befindlichen nervenfachärztlichen Gutachtens vom 28. Mai 1993 kaum vorstellbar ist, dass der Sohn des Klägers
vor 1989 (Vollendung des 27. Lebensjahres) seinen Lebensunterhalt vollends selbst bestreiten konnte, ist es entgegen der Ansicht
des Beklagten nicht tatbestandliche Voraussetzung des §
63 Abs.
1 S. 1 i.V.m. §
32 Abs.
4 Nr.
3
EStG, dass das Kind bereits vor Vollendung des 27. Lebensjahres unfähig gewesen oder unfähig geworden ist, sich selbst zu unterhalten.
Aus dem Gesetz ist mit aller Deutlichkeit ersichtlich, dass die Höchstaltersgrenze von 27 Jahren (vgl. §
32 Abs.
4 Nr.
2
EStG) für solche Kinder nicht gilt, die wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außer Stande sind, sich selbst
zu unterhalten. Hätte hier der Gesetzgeber etwas anderes zum Ausdruck bringen wollen, so hätte er nach Ansicht des Berichterstatters
in §
32 Abs.
4
EStG keine eigenständige Nummer
3 aufgeführt, sondern in anderer Weise geregelt, dass auch insoweit altersmäßige Voraussetzungen bestehen müssen. Der Berichterstatter
hält eine Auslegung gegen den ausdrücklichen Wortlaut der Vorschrift für nicht vertretbar (gl. A. FG München, Urteil vom 16.
April 1997, IX K 2742/96, EFG 1997, 1262; Hessisches FG, Urteil vom 16. März 1998, 2 K 3774/96, EFG 1998, 1014; Glanegger in Schmidt, 18. Auflage, §
32
EStG Rz. 49; a. A. Perlebach, §
32
EStG Rz. 113). An die anders lautende Verwaltungsauffassung (vgl. u. a. BMF-Erlass vom 09. März 1998 - IV B 5 - S 2280 - 45/98,
BStBl I 347 Rz. 20) ist das Gericht nicht gebunden, denn es handelt sich um eine Verwaltungsanweisung, welche weder die Gerichte
noch die Steuerpflichtigen bindet.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1
FGO. Die Anordnung der vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155
FGO, 708 , 711Nr. 10.
Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 1
FGO).