Erfordernis des Vorliegens eines Verschuldens des Unterhaltsberechtigten i.R.e. Verwirkung wegen schwerer Verfehlung; Auswirkung
der Störung familiärer Beziehungen i.S.d. § 1611 BGB zur Annahme einer unbilligen Härte i.R.d. Ausschlusses eines Anspruchsübergangs auf den Träger der Sozialhilfe
Tatbestand
Die Klägerin nimmt den Beklagten auf Zahlung von Elternunterhalt für seine 1935 geborene Mutter aus übergegangenem Recht in
Anspruch.
Die Klägerin ist Trägerin der öffentlichen Hilfe, die der Mutter des Beklagten, Frau M., seit November 2005 gewährt wird.
Frau M. befindet sich seit April 2005 in einem Pflegeheim. Sie litt schon während der Kindheit des Beklagten an einer Psychose
mit schizophrener Symptomatik und damit einhergehend an Antriebsschwäche und Wahnideen. Frau M. hat den 1961 geborenen Beklagten
bis zur Trennung und Scheidung von ihrem damaligen Ehemann im Jahr 1973 - mit Unterbrechungen wegen zum Teil längerer stationärer
Krankenhausaufenthalte - erzogen und versorgt. Seit spätestens 1977 besteht - bis auf gelegentliche Zusammentreffen auf Familienfeiern
- kein Kontakt mehr zwischen dem Beklagten und seiner Mutter.
Die Klägerin forderte den Beklagten mit Rechtswahrungsanzeige vom 9. November 2005 zur Auskunftserteilung auf. Dieser erteilte
Auskunft und berief sich auf Verwirkung gemäß §
1611 BGB. Nach Bezifferung des Anspruchs im Dezember 2006 und Zahlungsaufforderung im März 2007 hat die Klägerin schließlich im April
2008 Klage erhoben.
Das Familiengericht hat den Anspruch auf Zahlung von Elternunterhalt für den Zeitraum von November 2005 bis einschließlich
März 2007 gemäß §
242 BGB als verwirkt angesehen. Im Übrigen hat es den Beklagten zur Zahlung rückständigen sowie laufenden Elternunterhalts für die
Zeit von Mai 2008 an in Höhe von monatlich 649 € verurteilt.
Die hiergegen eingelegte Berufung des Beklagten blieb erfolglos. Auf die Berufung der Klägerin hat das Berufungsgericht den
Beklagten verurteilt, rückständigen Elternunterhalt an die Klägerin bereits ab November 2005 und laufenden Unterhalt zu zahlen,
u.a. von Januar bis Juni 2009 in Höhe von 674 € sowie von Juli 2009 an in Höhe von monatlich 701 €.
Hiergegen wendet sich der Beklagte mit seiner vom Berufungsgericht zugelassenen Revision.
Entscheidungsgründe
Die Revision hat keinen Erfolg.
I.
Das Berufungsgericht, dessen Entscheidung in FamRZ 2010, 303 veröffentlicht ist, hat seine Entscheidung wie folgt begründet:
Der Klägerin stehe gegen den Beklagten für die Zeit von November 2005 an Elternunterhalt zu. Die Mutter des Beklagten sei
spätestens seit November 2005 unterhaltsbedürftig. Nach Abzug ihrer eigenen Einkünfte von den für sie aufgewandten Heimkosten,
dem Barbedarf und den notwendigen einmaligen Beihilfen verbleibe für sie ein ungedeckter Restbedarf von mehr als 701 € monatlich.
Unter Berücksichtigung des durchschnittlichen monatlichen Nettoeinkommens des Beklagten, das sich in den Jahren von 2005 bis
2008 zwischen 3.077,47 € und 3.319,44 € bewegt habe, der jeweils hinzuzurechnenden Steuererstattung und unter Beachtung der
unterhaltsrechtlich relevanten Abzüge sei der Beklagte im streitgegenständlichen Zeitraum überwiegend leistungsfähig.
Der rückständige Unterhaltsanspruch der Klägerin sei nicht nach §
242 BGB verwirkt. Es bestünden bereits Bedenken dagegen, dass das erforderliche Zeitmoment erfüllt sei. Jedenfalls lägen keine Umstände
vor, die es rechtfertigten, dass sich der Beklagte habe darauf einrichten dürfen, von der Klägerin nicht mehr auf Elternunterhalt
in Anspruch genommen zu werden. Der Beklagte habe aus dem Inhalt der außergerichtlichen Schreiben der Klägerin vom 18. April
2006 und vom 27. August 2007 zweifelsfrei erkennen können, dass diese die auf sie übergegangenen Unterhaltsansprüche seiner
Mutter weiter verfolge.
Der Unterhaltsanspruch der Mutter des Beklagten sei auch nicht gemäß §
1611 BGB verwirkt. Das einmalige Zerschneiden der Kleidung der Kinder, die Verursachung des Waschzwangs und das mehrfache - seinem
Umfang nach nicht näher dargelegte - Aussperren aus der Wohnung stellten vor dem Hintergrund der psychischen Erkrankung der
Mutter des Beklagten ohne Hinzutreten besonderer Umstände keine schwere Verfehlung dar. Soweit der Beklagte seiner Mutter
vorwerfe, sie habe den Kontakt zu ihm nach der Trennung abgebrochen und dabei jedes Maß an emotionaler Zuneigung missen lassen,
sei sein Vortrag widersprüchlich. Nach dem Inhalt der Beiakten habe seine Mutter im Jahr 1975 einen Antrag auf Regelung der
Umgangskontakte gestellt, der an dem Willen des Beklagten gescheitert sei. Ebenso wenig könne eine gröbliche Verletzung der
Unterhaltspflicht im Sinne von §
1611 BGB angenommen werden.
Im Übrigen fehle es an einem für eine Verwirkung erforderlichen Verschulden der unterhaltsbedürftigen Mutter des Beklagten.
Die vom Beklagten beschriebenen Betreuungsausfälle und ihre Unfähigkeit, spätestens ab 1971 für den Naturalunterhalt und ab
dem Zeitpunkt der Trennung vom Vater des Beklagten für seinen Barunterhalt aufzukommen, beruhten unstreitig auf der Erkrankung
seiner Mutter an schizophrener Psychose.
Schließlich stünde dem Übergang des Unterhaltsanspruchs der Mutter auf die Klägerin auch § 94 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII
nicht entgegen. Eine unbillige Härte im Sinne dieser Vorschrift liege dann vor, wenn mit der Heranziehung des Unterhaltspflichtigen
zum Elternunterhalt soziale Belange vernachlässigt würden. Seien lediglich familiäre Belange betroffen, komme eine Anwendung
des § 94 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII nicht in Betracht. Diese Einschränkung folge daraus, dass den familiären Belangen bereits
durch die Vorschrift des §
1611 BGB hinreichend Rechnung getragen sei. Es müssten daher Umstände vorliegen, die es gerade aus dem Blickwinkel des Sozialrechts
unzumutbar erscheinen ließen, wenn jemand zum Unterhalt für seine Eltern herangezogen werde. Daran fehle es. Ziel der Gewährung
der öffentlichen Hilfe für die Mutter des Beklagten sei nicht die Entlastung des Beklagten von seiner Unterhaltsverpflichtung.
Einer solchen Zielsetzung stünde bereits entgegen, dass der Beklagte aufgrund seiner relativ hohen Einkünfte und mangels weiterer
Unterhaltsverpflichtungen wirtschaftlich ohne unzumutbare Einschränkung seiner Lebensführung in der Lage sei, den begehrten
Unterhalt für seine Mutter zu leisten. Es seien auch keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die Heranziehung des Beklagten
zu den der Klägerin entstandenen Kosten zu einer nachhaltigen Störung des Familienfriedens führte.
Schließlich sei ein kausaler Zusammenhang der schicksalhaften Erkrankung der Mutter mit einem Handeln des Staates oder seiner
Organe, der soziale Belange begründen könnte, anders als in dem vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall eines psychisch erkrankten
Kriegsheimkehrers (Senatsurteil vom 21. April 2004 - XII ZR 251/01 - FamRZ 2004, 1097) nicht feststellbar.
II.
Diese Ausführungen halten einer rechtlichen Überprüfung stand.
1.
Allerdings weist der Beklagte zu Recht darauf hin, dass seine Revision uneingeschränkt zulässig sei.
Zwar hat das Berufungsgericht die Revision "im Hinblick auf den unbestimmten Rechtsbegriff der 'unbilligen Härte' im Sinne
des § 94 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII und die erforderliche Abgrenzung des Anwendungsbereichs dieser Vorschrift im Verhältnis
zu den Tatbeständen der Verwirkung nach §
1611 BGB" zugelassen. Die Revision weist jedoch zu Recht darauf hin, dass - sollte hierin eine Beschränkung der Revisionszulassung
auf eine bestimmte Rechtsfrage liegen - diese unbeachtlich sei.
Die Zulassung der Revision kann nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichthofs nur auf einen tatsächlich und rechtlich
selbständigen Teil des Gesamtstreitstoffes beschränkt werden, der Gegenstand eines Teilurteils sein könnte oder auf den der
Revisionskläger selbst seine Revision beschränken könnte. Unzulässig ist es, die Zulassung auf einzelne von mehreren Anspruchsgrundlagen
oder auf bestimmte Rechtsfragen zu beschränken (BGHZ 101, 276, 278; BGH Urteil vom 20. Mai 2003 - XI ZR 248/02 - BGHR
ZPO (1. Januar 2002) §
543 - Revisionszulassung, beschränkte 1).
Die Frage der Verwirkung bzw. des Anspruchsübergangs betrifft den gesamten Streitgegenstand, also auch die Geltendmachung
rückständigen Unterhalts. Da das Berufungsgericht eine Verwirkung gemäß §
242 BGB abgelehnt hat, mithin den Anspruch von November 2005 an zuerkannt hat, obliegt auch dieser Teil des Streitgegenstands der
weiteren Überprüfung, ob er möglicherweise der Verwirkung nach §
1611 BGB unterliegt bzw. ob insoweit ein Übergang des Anspruchs auf die Klägerin wegen unbilliger Härte gemäß § 94 Abs. 3 Satz 1 Nr.
2 SGB XII ausgeschlossen ist. Es fehlt mithin an einem tatsächlich und rechtlich selbständigen Teil des Gesamtstreitstoffes,
der eine auf diesen Teil beschränkte Überprüfung durch das Revisionsgericht erlaubte.
2.
Das Berufungsgericht hat den Beklagten zu Recht zur Zahlung von Elternunterhalt aus übergegangenem Recht gemäß §§
1601 BGB,
94 SGB XII verurteilt.
a)
Die Revision beanstandet, dass das Berufungsgericht eine Verwirkung nach §
242 BGB bzw. §
1611 BGB abgelehnt und einen Anspruchsübergang auf die Klägerin gemäß §
94 SGB XII bejaht habe. Die übrigen Feststellungen bzw. Ausführungen des Berufungsgerichts zu Grund und Höhe des geltend gemachten
Unterhaltsanspruchs greift die Revision nicht an. Insoweit sind Rechtsfehler auch nicht ersichtlich.
b)
Ebenso wenig sind die Ausführungen des Berufungsgerichts zu beanstanden, wonach der rückständige Unterhaltsanspruch der Klägerin
nicht nach den Grundsätzen von Treu und Glauben gemäß §
242 BGB verwirkt ist.
aa)
Eine Verwirkung kommt nach allgemeinen Grundsätzen in Betracht, wenn der Berechtigte ein Recht längere Zeit nicht geltend
macht, obwohl er dazu in der Lage wäre, und der Verpflichtete sich mit Rücksicht auf das gesamte Verhalten des Berechtigten
darauf einrichten durfte und eingerichtet hat, dass dieser sein Recht auch in Zukunft nicht geltend machen werde (Senatsurteile
vom 23. Oktober 2002 - XII ZR 266/99 - FamRZ 2002, 1698; vom 22. November 2006 - XII ZR 152/04 - FamRZ 2007, 453, 455 und vom 10. Dezember 2003 - XII ZR 155/01 - FamRZ 2004, 531, 532). Für Unterhaltsansprüche sind an das Zeitmoment der Verwirkung keine strengen Anforderungen zu stellen. Von einem Unterhaltsgläubiger,
der lebensnotwendig auf Unterhaltsleistungen angewiesen ist, muss eher als von einem Gläubiger anderer Forderungen erwartet
werden, dass er sich zeitnah um die Durchsetzung des Anspruchs bemüht. Anderenfalls können Unterhaltsrückstände zu einer erdrückenden
Schuldenlast anwachsen. Abgesehen davon sind im Unterhaltsrechtsstreit die für die Bemessung des Unterhalts maßgeblichen Einkommensverhältnisse
der Parteien nach längerer Zeit oft nur schwer aufklärbar. Diese Gründe, die eine möglichst zeitnahe Geltendmachung von Unterhalt
nahe legen, sind so gewichtig, dass das Zeitmoment der Verwirkung auch dann erfüllt sein kann, wenn die Rückstände Zeitabschnitte
betreffen, die etwas mehr als ein Jahr zurückliegen (Senatsurteil vom 23. Oktober 2002 - XII ZR 266/99 - FamRZ 2002, 1698, 1699). Dieselben Anforderungen gelten, wenn die aus übergegangenem Recht klagende Behörde tätig wird. Zwar ist diese - anders
als der ursprüngliche Unterhaltsgläubiger - nicht lebensnotwendig auf die Realisierung der Forderungen angewiesen. Jedoch
ist die Behörde aufgrund der Natur, des Inhalts und des Umfangs des Unterhaltsanspruchs, der sich durch den Übergang nicht
verändert, gehalten, sich um dessen zeitnahe Durchsetzung zu bemühen (Senatsurteil vom 23. Oktober 2002 - XII ZR 266/99 - FamRZ 2002, 1698, 1699).
Neben dem Zeitmoment kommt es für die Verwirkung auf das Umstandsmoment an, d.h. es müssen besondere Umstände hinzutreten,
aufgrund derer der Unterhaltsverpflichtete sich nach Treu und Glauben darauf einrichten durfte und eingerichtet hat, dass
der Unterhaltsberechtigte sein Recht nicht mehr geltend machen werde. Dabei kommt es jedoch nicht auf konkrete Vertrauensinvestitionen
des Unterhaltsschuldners bzw. auf das Entstehen besonderer Nachteile durch die späte Inanspruchnahme an (Senatsurteil vom
23. Oktober 2002 - XII ZR 266/99 - FamRZ 2002, 1698, 1699).
bb)
Unter Anwendung dieser Maßstäbe ist das Berufungsgericht zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, dass hier eine Verwirkung nach
§
242 BGB ausscheidet.
Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hat die Klägerin den Beklagten mit Rechtswahrungsanzeige vom 9. November 2005
zur Auskunftserteilung über sein Einkommen aufgefordert. Nachdem dieser die geforderte Auskunft erteilt und zugleich den Einwand
der Verwirkung gemäß §
1611 BGB erhoben hatte, hat die Klägerin den Beklagten mit Schreiben vom 18. April 2006 und vom 16. November 2006 vergeblich aufgefordert,
seinen Vortrag zu den eine mögliche Verwirkung begründenden Umständen zu ergänzen und entsprechende Belege einzureichen. Sodann
hat die Klägerin ihre Ansprüche mit Schreiben vom 20. Dezember 2006 beziffert. Den Beklagten hat sie mit Schreiben vom 1.
März 2007 vergeblich zur Zahlung des Elternunterhalts aufgefordert. Nach einer schriftlichen Zahlungserinnerung vom 27. August
2007 hat sie im April 2008 Klage erhoben.
Damit ist weder dem Zeitmoment noch dem Umstandsmoment Rechnung getragen.
(1)
Für das Zeitmoment sind nicht nur die Aufforderung der Klägerin zur Auskunftserteilung, die Bezifferung des Unterhaltsanspruchs
und die Zahlungsaufforderung von Bedeutung. Vielmehr fallen hierunter auch Vorgänge, die zwar nicht unmittelbar der Durchsetzung
des Anspruchs, aber ihrer Vorbereitung dienen, wie etwa das Einräumen von Stellungnahmefristen, die eine weitere Sachverhaltsaufklärung
ermöglichen sollen.
Aus einer Gesamtschau des Schriftverkehrs ergibt sich, dass das Verhalten der Klägerin von dem Bemühen getragen war, den Anspruch
zeitnah durchzusetzen. Dem steht nicht entgegen, dass sie dem Beklagten zugleich die Möglichkeit eingeräumt hat, im Hinblick
auf die lang zurückliegenden Geschehnisse den von ihm geltend gemachten Verwirkungseinwand zu erhärten. Dabei liegt der längste
Abstand von rund acht Monaten zwischen der Zahlungsaufforderung vom 27. August 2007 und der Klagerhebung im April 2008.
(2)
Selbst wenn man die Schreiben der Klägerin, die dem Beklagten die Möglichkeit einräumen sollten, den Streit außergerichtlich
beizulegen, bei der Prüfung des Zeitmoments unberücksichtigt ließe, stünde jedenfalls - wie das Berufungsgericht zutreffend
ausgeführt hat - das Umstandsmoment einer Verwirkung nach §
242 BGB entgegen. Denn dem Beklagten musste aufgrund dieser Schreiben klar sein, dass die Klägerin nach wie vor mit der Prüfung des
Anspruchs beschäftigt war, um diesen bei Fehlen erheblicher Einwendungen ggf. einer gerichtlichen Durchsetzung zuzuführen.
Dass sich das ganze Verfahren zeitlich gestreckt hat, kann der Klägerin auch deshalb nicht zum Vorwurf gemacht werden, weil
der Beklagte ausweislich der in Bezug genommenen Schreiben nichts weiter vorgetragen hatte.
c)
Ebenso wenig ist zu beanstanden, dass das Berufungsgericht eine Verwirkung des auf die Klägerin übergegangenen Unterhaltsanspruchs
gemäß §
1611 BGB abgelehnt hat.
aa)
Nach §
1611 Abs.
1 Satz 1
BGB braucht der Verpflichtete nur einen Beitrag zum Unterhalt in der Höhe zu leisten, die der Billigkeit entspricht, wenn der
Unterhaltsberechtigte u.a. seine eigene Unterhaltspflicht gegenüber dem Unterhaltspflichtigen gröblich vernachlässigt oder
sich vorsätzlich einer schweren Verfehlung gegen den Unterhaltspflichtigen schuldig gemacht hat. Die Unterhaltspflicht entfällt
vollständig, wenn die Inanspruchnahme des Verpflichteten im Hinblick darauf grob unbillig wäre, §
1611 Abs.
1 Satz 2
BGB. Dabei kann sich eine gröbliche Vernachlässigung der eigenen Unterhaltspflicht i.S.v. §
1611 Abs.
1 Satz 1 Alt. 2
BGB auch auf die Gewährung von Naturalunterhalt beziehen (Senatsurteil vom 19. Mai 2004 - XII ZR 304/02 - FamRZ 2004, 1559, 1560). Eine schwere Verfehlung gemäß §
1611 Abs.
1 Satz 1 Alt. 3
BGB kann regelmäßig nur bei einer tief greifenden Beeinträchtigung schutzwürdiger wirtschaftlicher Interessen oder persönlicher
Belange des Pflichtigen angenommen werden. Dabei kann sich auch eine - durch Unterlassen herbeigeführte - Verletzung elterlicher
Pflichten wie etwa der Aufsichtspflicht oder der Pflicht zu Beistand und Rücksicht i.S.v. §
1618 a BGB als Verfehlung gegen das Kind darstellen (Senatsurteil vom 19. Mai 2004 - XII ZR 304/02 - FamRZ 2004, 1559, 1560).
bb)
Dass das Berufungsgericht diese Voraussetzungen aufgrund der von ihm getroffenen Feststellungen nicht als gegeben angesehen
hat, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
(1)
Das Berufungsgericht hat das Vorliegen einer gröblichen Vernachlässigung der Unterhaltspflicht seitens Frau M. verneint. Nach
seinen Feststellungen ist davon auszugehen, dass Frau M. ab dem neunten bzw. zehnten Lebensjahr des Beklagten krankheitsbedingt
nicht mehr in der Lage war, die Kindesbetreuung sicherzustellen. Eine Verpflichtung der Mutter des Beklagten zur Betreuung
und Pflege ihrer Kinder habe nur bis zu der Trennung der Eltern im Jahre 1972 bzw. 1973 und dem anschließenden Aufenthalt
des Beklagten beim Vater bestanden.
Dass das Berufungsgericht auf Grundlage dieser - von der Revision nicht angegriffenen - Feststellungen eine gröbliche Vernachlässigung
der Unterhaltspflicht verneint hat, ist vor dem Hintergrund der Erkrankung von Frau M., wegen derer sie sich ab 1971 mehrfach
in längerfristige stationäre Behandlung begeben musste, nicht zu beanstanden. Denn da die Mutter krankheitsbedingt nicht in
der Lage war, den Beklagten angemessen zu betreuen, war sie wegen dieser Einschränkungen - wie ein Barunterhalt schuldender
Elternteil bei wirtschaftlicher Leistungsunfähigkeit - nicht zum Unterhalt verpflichtet; entsprechendes gilt für die nach
der Trennung der Eltern eingetretene Barunterhaltspflicht. Damit kann nicht von einer gröblichen Vernachlässigung der Unterhaltspflicht
ausgegangen werden.
(2)
Zu Recht hat das Berufungsgericht zudem entschieden, dass sich Frau M. nicht vorsätzlich einer schweren Verfehlung gegen den
Beklagten schuldig gemacht habe.
(a)
Das Berufungsgericht hat bereits den objektiven Tatbestand als nicht erfüllt angesehen. Zutreffend hat es darauf hingewiesen,
dass §
1611 BGB eine eng auszulegende Ausnahmevorschrift ist. Wenn das Berufungsgericht unter dieser Prämisse das einmalige Zerschneiden
der Kleidung der Kinder, die Verursachung des Waschzwangs beim Beklagten und das mehrfache Aussperren der Kinder aus der Wohnung
ohne Hinzutreten besonderer Umstände vor dem Hintergrund der psychischen Erkrankung der Mutter nicht als schwere Verfehlung
qualifiziert, ist diese tatrichterliche Würdigung als vertretbar zu erachten.
Soweit der Beklagte seiner Mutter vorwirft, sie habe den Kontakt zu ihm nach der Trennung abgebrochen und dabei jedes Maß
an emotionaler Zuneigung missen lassen, weist das Berufungsgericht zu Recht auf die Widersprüchlichkeit dieses Vortrages hin.
Denn nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hat seine Mutter im Jahr 1975 einen Antrag auf Regelung der Umgangskontakte
gestellt. Zutreffend verweist es zudem darauf, dass der Antrag letztendlich am Willen des Beklagten gescheitert sei. Auch
wenn der Grund für die Ablehnung der Umgangskontakte durch den Beklagten letztlich das damalige Verhalten seiner Mutter gewesen
sein dürfte, ändert dies nichts an der Tatsache, dass sich seine Mutter im Rahmen ihrer Möglichkeiten um eine Fortführung
des Mutter-Kind-Verhältnisses bemüht hat. Von einer schweren vorsätzlichen Verfehlung kann daher nicht gesprochen werden.
(b)
Im Übrigen träfe die Mutter des Beklagten an einer schweren Verfehlung - was auch die Revision einräumt - kein Verschulden.
Nach dem eindeutigen Wortlaut des §
1611 Abs.
1 Satz 1 Alt. 3
BGB setzt die Verwirkung voraus, dass der Unterhaltsberechtigte sich vorsätzlich einer schweren Verfehlung gegen den Unterhaltspflichtigen
schuldig gemacht hat. Deshalb setzt die Anwendung von §
1611 BGB insoweit - worauf die Revision zutreffend hinweist - ein Verschulden voraus (MünchKommBGB/Born 5. Aufl. §
1611 Rn. 27; Staudinger/Engler
BGB Neubearb. 2000 §
1611 Rn. 25).
Soweit die Revision in Anlehnung an das Pflichtteilsrecht und unter Bezugnahme auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
aus dem Jahre 2005 zu §
2333 Abs.
1 Nr.
1 BGB (FamRZ 2005, 872, 877) meint, ein Verschulden im rechtstechnischen Sinne sei nicht erforderlich, vielmehr genüge es, wenn der Unterhaltsberechtigte
in einem natürlichen Sinne vorsätzlich handle, verkennt sie, dass in §
2333 Abs.
1 Nr.
1 BGB - anders als in §
1611 Abs.
1 BGB - ein schuldhaftes Verhalten als Tatbestandsmerkmal nicht aufgenommen worden ist; hierauf hat das Bundesverfassungsgericht
ausdrücklich abgestellt (BVerfG FamRZ 2005, 872, 877). Zwar hatte §
1611 Abs.
2 BGB in seiner bis zum 1. Juli 1970 geltenden Fassung für die Verwirkung u.a. auch auf die Pflichtteilsentziehungstatbestände
verwiesen (vgl. Palandt/Lauterbach
BGB 26. Aufl. §
1611 BGB). Jedoch war damals schon Voraussetzung für eine Verwirkung, dass sich der Unterhaltsberechtigte einer Verfehlung "schuldig"
gemacht hatte, die den Unterhaltspflichtigen berechtigte, ihm den Pflichtteil zu entziehen. Im Übrigen hat der Gesetzgeber
bei der Änderung des §
1611 BGB zum 1. Juli 1970, mit der er das Tatbestandsmerkmal des sittlichen Verschuldens um die weiteren - hier zu prüfenden - Verwirkungsgründe
ergänzt hat, erläutert, dass auf die Pflichtteilsentziehungsgründe nicht mehr abgestellt werden solle, weil die Voraussetzungen
für die Entziehung des Pflichtteils einerseits und für eine Beschränkung des Unterhalts andererseits nicht übereinzustimmen
bräuchten (BT-Drucks. V/2370, S. 41).
d)
Schließlich hat das Berufungsgericht zu Recht und mit zutreffender Begründung entschieden, dass § 94 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB
XII einem Anspruchsübergang auf die Klägerin nicht entgegensteht.
aa)
Nach § 94 Abs. 1 Satz 1 SGB XII geht der zivilrechtliche Unterhaltsanspruch eines Sozialhilfeberechtigten bis zur Höhe der
geleisteten Aufwendungen mit dem unterhaltsrechtlichen Auskunftsanspruch auf den Träger der Sozialhilfe über. Gemäß § 94 Abs.
3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII geht der Anspruch nicht über, soweit dies eine unbillige Härte bedeuten würde. Es handelt sich hierbei
um einen unbestimmten Rechtsbegriff, dessen Anwendung der vollen Nachprüfung durch das Revisionsgericht unterliegt (Senatsurteile
vom 23. Juni 2010 - XII ZR 170/08 - FamRZ 2010, 1418 Rn. 32 und vom 21. April 2004 - XII ZR 251/01 - FamRZ 2004, 1097, 1098 zu der entsprechenden Vorgängervorschrift des § 91 Abs. 2 Satz 2 BSHG).
Während die Frage, ob der Unterhaltsanspruch nach §
1611 BGB verwirkt ist, rein zivilrechtlicher Natur ist, richtet sich die Frage des Anspruchsübergangs nach § 94 SGB XII nach öffentlichem
Recht. Deshalb genügt eine zivilrechtlich einzuordnende Störung familiärer Beziehungen im Sinne des §
1611 BGB grundsätzlich nicht, um eine unbillige Härte im Sinne des §
94 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII zu begründen und damit einen Anspruchsübergang auf den Träger der Sozialhilfe auszuschließen
(vgl. BVerwGE 58, 209, 214 zu § 91 Abs. 3 BSHG aF; Oestreicher/Decker SGB XII/SGB II Stand Dezember 2005 § 94 SGB XII Rn. 170; s. auch Klinkhammer FamRZ 2004, 1283). Vielmehr umfasst §
1611 BGB für die Prüfung einer etwaigen Verwirkung nur die für das zivilrechtlich zu beurteilende Familienverhältnis in Frage kommenden
Tatbestandsmerkmale. Sind die Voraussetzungen für eine Verwirkung erfüllt, kommt § 94 SGB XII ohnehin nicht zum Tragen, weil
es an einem Unterhaltsanspruch fehlt, der auf den Träger der Sozialhilfe übergehen könnte (Senatsurteile vom 23. Juni 2010
- XII ZR 170/08 - FamRZ 2010, 1418 Rn. 32 und vom 21. April 2004 - XII ZR 251/01 - FamRZ 2004, 1097, 1098). Aber auch eine an sich unter §
1611 Abs.
1 BGB fallende Sachverhaltskonstellation, die jedoch nicht alle Tatbestandsmerkmale dieser Norm - wie etwa das Verschulden - erfüllt
und deshalb nicht zu einer Verwirkung des Unterhaltsanspruchs führt, ist grundsätzlich nicht unter § 94 SGB XII zu subsumieren.
Etwas anderes gilt nur dann, wenn der nach §
1611 BGB zu beurteilende Lebenssachverhalt aus Sicht des Sozialhilferechts auch soziale Belange erfasst, die einen Übergang des Anspruches
nach öffentlich-rechtlichen Kriterien ausschließen (vgl. BVerwGE 58, 209, 215 f.). Das Berufungsgericht hat dies zutreffend damit umschrieben, dass ein erkennbarer Bezug zum Sozialhilferecht, insbesondere
ein kausaler Zusammenhang zu einem Handeln des Staates oder seiner Organe, vorliegen müsse. Dies zeichnet etwa den vom Senat
im Jahr 2004 entschiedenen Fall aus (Senatsurteil vom 21. April 2004 - XII ZR 251/01 - FamRZ 2004, 1097). Zwar reichte dort das krankheitsbedingte Fehlverhalten des Unterhaltsberechtigten, das die Lockerung der Familienbande
zur Folge hatte - ebenso wie hier - nicht dafür aus, den Anspruch gemäß §
1611 BGB als verwirkt anzusehen. Die der Vernachlässigung zugrunde liegende psychische Erkrankung war jedoch durch den - dem Staat
zuzurechnenden - Kriegsdienst des Vaters verursacht worden.
Entscheidend ist nach alledem, ob aus der Sicht des Sozialhilferechts durch den Anspruchsübergang soziale Belange berührt
werden. Die Härte kann in materieller oder immaterieller Hinsicht bestehen und entweder in der Person des Unterhaltspflichtigen
oder in derjenigen des Hilfeempfängers vorliegen. Bei der Auslegung der Härteklausel ist in erster Linie die Zielsetzung der
Hilfe zu berücksichtigen, daneben sind die allgemeinen Grundsätze der Sozialhilfe zu beachten (Senatsurteile vom 21. April
2004 - XII ZR 251/01 - FamRZ 2004, 1097, 1098 und vom 23. Juni 2010 - XII ZR 170/08 - FamRZ 2010, 1418 Rn. 33). Eine unbillige Härte liegt danach insbesondere vor, wenn und soweit der - öffentlich-rechtliche - Grundsatz der
familiengerechten Hilfe, nach dem u.a. auf die Belange und Beziehungen in der Familie Rücksicht zu nehmen ist (vgl. § 16 SGB
XII), einer Heranziehung entgegensteht. Weitere Gründe sind, dass die laufende Heranziehung in Anbetracht der sozialen und
wirtschaftlichen Lage des Unterhaltspflichtigen mit Rücksicht auf die Höhe und Dauer des Bedarfs zu einer nachhaltigen und
unzumutbaren Beeinträchtigung des Unterhaltspflichtigen und der übrigen Familienmitglieder führen würde, wenn die Zielsetzung
der Hilfe infolge des Übergangs gefährdet erscheint oder wenn der Unterhaltspflichtige den Sozialhilfeempfänger bereits vor
Eintritt der Sozialhilfe über das Maß einer zumutbaren Unterhaltsverpflichtung hinaus betreut oder gepflegt hat (Senatsurteile
vom 21. April 2004 - XII ZR 251/01 - FamRZ 2004, 1097, 1098 und vom 23. Juni 2010 - XII ZR 170/08 - FamRZ 2010, 1418 Rn. 34 mwN).
Soweit die Revision darauf hinweist, dass der Gesetzgeber in § 94 Abs. 2 SGB XII eine Sonderbehandlung von Eltern behinderter
volljähriger Kinder dergestalt vorsieht, dass der Rückgriff auf bestimmte Höchstbeträge begrenzt ist (vgl. Senatsurteil vom
23. Juni 2010 - XII ZR 170/08 - FamRZ 2010, 1418 Rn. 22 ff.), beruht dies auf anderen gesetzgeberischen Erwägungen, die auf den Elternunterhalt nicht übertragbar sind.
bb)
Das Berufungsgericht hat unter Beachtung dieser Anforderungen zu Recht einen Ausschluss des Anspruchübergangs verneint. Es
hat darauf abgestellt, dass der Beklagte aufgrund seiner relativ hohen Einkünfte und dem Nichtbestehen weiterer Unterhaltsverpflichtungen
wirtschaftlich ohne unzumutbare Einschränkung seiner Lebensführung in der Lage sei, den begehrten Unterhalt zu leisten. Ebenso
wenig sei eine nachhaltige Störung des Familienfriedens ersichtlich. Zudem habe der Beklagte seine Mutter vor Inanspruchnahme
weder betreut noch gepflegt. Dass das Berufungsgericht dabei keine Umstände für gegeben erachtet hat, die es gerade aus dem
Blickwinkel des Sozialrechts unzumutbar erscheinen lassen, den Beklagten zum Unterhalt für seine Mutter heranzuziehen, ist
revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Vor allem ist nicht zu beanstanden und im Übrigen von der Revision auch nicht gerügt,
dass das Berufungsgericht den Vortrag des Beklagten, wonach die Kriegserlebnisse seiner Mutter mitursächlich für ihre psychische
Erkrankung an Schizophrenie gewesen seien, als Behauptung ins Blaue hinein qualifiziert hat.
Nach alledem ist nicht ersichtlich, weshalb der Beklagte aus der familiären Verantwortung gegenüber seiner Mutter entlassen
werden sollte. Wäre der Staat für die Mutter nicht in Vorleistung getreten, hätte sie gegen den Beklagten ohnehin ihren Unterhaltsanspruch
durchsetzen können. Wegen der vom Gesetz geforderten familiären Solidarität rechtfertigen die als schicksalsbedingt zu qualifizierende
Krankheit der Mutter und deren Auswirkungen auf den Beklagten es nicht, die Unterhaltslast dem Staat aufzubürden.